Süddeutsche Zeitung

Seemannsgarn:Die Lücke im Logbuch

Ein deutscher Kanonier auf Magellans erster Weltumsegelung: In Raoul Schrotts Roman "Eine Geschichte des Windes" wirbelt die Fantasie die Archive auf.

Von Nicolas Freund

Am Ende bleibt doch immer ein Restrisiko. Wetter, Reisen und, in diesem besonderen Fall, die Arbeit eines Kanoniers haben gemeinsam, dass allen Kalkülen zum Trotz zwischen Vorhersage und Ergebnis eine Lücke klafft, die schlimmstenfalls fatal, bestenfalls kurios ist. Damit ist der poetische Kern des neuen Romans von Raoul Schrott mit dem schelmisch langen Titel "Eine Geschichte des Windes oder von dem deutschen Kanonier der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal" auch schon zusammengefasst. Er macht nämlich dieses Spektrum des Fatalen und Kuriosen, zwischen dem, was ist, und dem, was sein kann, zu seinem Wirkungsraum und erzählt eine Geschichte, die sich so zugetragen haben könnte, wahrscheinlich aber nie passiert ist.

Vor 500 Jahren nämlich, soweit noch die historisch und damit auch schriftlich tradierten Fakten, stach Magellan mit seiner Flotte zur ersten Weltumrundung in See. Eigentlich sollte, ähnlich wie bei Kolumbus' Reise 27 Jahre zuvor, eine Passage nach Westen, die aus europäischer Sicht in den Osten führt, gefunden werden. In besagter Lücke zwischen Planung und Umsetzung tat sich dann tatsächlich die vermutete Kugelgestalt der Erde auf. Magellan selbst, der in dem Roman konsequent Magalhães und Mägäle genannt wird, bekam das schon nicht mehr mit.

Wie ebenfalls historisch belegter Fakt, geriet er in einen Hinterhalt, wurde von einem philippinischen Inselvolk dahingerafft und verspeist. Überliefert ist nun wohl auch, dass sich an Bord eines seiner Schiffe ein deutscher Kanonier mit dem Namen Hannes aus Aachen oder "Anes" oder "Hanse" oder "Juan Aleman de Aquisgran" befunden haben muss. Dieser taucht auch später noch zweimal auf den Bordlisten anderer Schiffe auf was deshalb bemerkenswert ist, da es sich bei diesem Hannes, wenn denn die Quellenlage verlässlich ist und sich hinter all den Namen tatsächlich ein und derselbe Kanonier verbirgt, um den ersten Menschen handelt, der dreimal die Welt umrundete. So macht es sich zumindest der Roman zur Prämisse.

Wer im 16. Jahrhundert wann, von wo und auf welchem Schiff wohin fuhr, lässt sich auch heute noch ziemlich genau überprüfen, da im Casa de Contractación im spanischen Sevilla kistenweise Dokumente mit eben diesen Informationen erhalten sind. Wenn schon die Reise in die neue Welt noch eine Reise ins Ungewisse war, so sollte wenigstens festgehalten werden, was sich mit Sicherheit über die Reisen sagen ließ. Schließlich galt es auch, Steuern und Zölle zu erheben.

So nimmt Schrott diese dünnen bürokratischen Einträge zur Grundlage seiner Geschichte über Leben und Abenteuer seines Hannes, die er dann aus den anderen historischen und literarischen Quellen gewissermaßen kalkuliert hat. Denn Chroniken und Reiseberichte aus dieser Zeit gibt es viele, nur eben zu jenem Hannes gibt es, soweit bekannt, sonst nichts Konkretes.

Hier soll auch eine Art pseudobarocke Kunstsprache in die Gegenwart gerettet oder überhaupt erst erfunden werden.

Auch hier klafft aber wieder - das Schreiben ist bei Schrott immer eng mit der Reise verwandt - zwischen Konzeption und Umsetzung eine Lücke. Natürlich ist das alles eigentlich ein großer Spaß, denn dieser Freiraum erlaubt wildes Kombinieren und Dazuerfinden, basierend auf allen möglichen barocken und frühneuzeitlichen Quellen. Nach den Regeln einer selbst erfundenen Poetik der Winde, die ja immer aus einer der vier Himmelsrichtungen blasen, kombiniert der Text die Beschreibungen alter Karten, dazu die Wissenschaften des 16. Jahrhunderts,etwa die aus der Antike stammende Viersäftelehre, das Navigieren in so ziemlich jedem Lebensbereich, von den Straßen Sevillas bis zu den Untiefen der Liebesverhältnisse, in die jener Hannes unweigerlich stolpert, in zu meist kurzen, anekdotenhaften Kapiteln. Diesen Spuren zu folgen und sie zu entflechten macht großen Spaß. Auch das gebundene Buch ist in seinem großen, foliantartigen Format, mit Karten und Stichen illustriert und mit einem groben Seitenrand, als hätten die Papierbögen, wie es in vergangenen Jahrhunderten der Fall war, erst von Hand aufgetrennt werden müssen, eine Art historisch-romantisierter Schmöker.

Mit der historischen Erzählsituation nimmt es der Roman dagegen nicht allzu ernst und vermischt immer wieder die nacherzählte Vergangenheit mit der erlebten Gegenwart, wenn der Erzähler, der in diesen Fällen wohl ausnahmsweise ziemlich genau mit Raoul Schrott zusammenfällt, berichtet: "Dort, wo die Maktaner unter ihrem Stammesführer Lapu-Lapu am 27. April 1521 Magalhães in den Hinterhalt lockten, steht heute ein zwanzigstöckiges Luxushotel, von dessen hintersten Zimmern aus die Bucht, in der seine drei Karacken ankerten, am Rande zu überblicken ist, während Koreanerinnen und Chinesinnen sich unten am Strand sonnen, indem sie in langärmlig dunklen Leibchen unter dem Badetuch im Schatten eines Sonnenschirm liegen, um sich die gewünschte Blässe der Haut zu bewahren."

Hier soll auch eine Art pseudobarocke Kunstsprache in die Gegenwart gerettet oder überhaupt erst erfunden werden. Das lässt sich so natürlich endlos fortspinnen, aber wo man dann landet, wird, allen auf historischen Quellen basierenden Berechnungen zum Trotz, zunehmend austauschbar. Das ist zum Teil gewollt, wozu bräuchte es denn Entdeckungsreisen, wenn von vornherein alles bekannt wäre?

Gerade die Orientierung an den zeitgenössischen Quellen und ihr Weiterspinnen macht das Abenteuer aber arg vorhersehbar. Selbst wer sich nicht ausführlich mit den Reiseberichten und Traktaten des 16. Jahrhunderts beschäftigt hat, wird hier einiges wiedererkennen, von den Anekdoten der Reisen Magellans bis zu Zitaten aus Dürers Stichen. Das wirkt aber ein wenig - vor allem nach der Ansage, dass hier eine Geschichte erst geschrieben werden soll -, als wäre Magellan auch auf den entlegensten Inseln noch auf eine gut bestückte europäische Bibliothek gestoßen.

Neues gibt es auf dieser Reise gerade nicht viel zu entdecken. Das Handwerk Hannes', das Gießen und Bedienen von Geschützen, wird, wie die Reisen und das Leben, als letztlich von den Winden und anderen Zufällen gesteuerte Tätigkeit beschrieben, da die Kanoniere "kaum jemals vorhersehen können, auf welchem Punkt genau ihre Kugeln landen werden". Nur gilt das gerade für diesen Text nicht. Er ist eine "Geschichte des Windes", die etwas zu genau berechnet wurde.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2019
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