Es ist nur ein unscheinbarer Satz, aber er könnte eine Wende im konservativen Denken dieser Republik bedeuten. Horst Seehofer, der neue Minister für "Heimat", hat in einem Beitrag für die FAZ sein Verständnis dieses Begriffs erläutert. Der Text redet von Globalisierung, Migration und Neoliberalismus, zitiert sogar die "Gesellschaft der Singularitäten" von Andreas Reckwitz, den jüngsten soziologischen Hit. Gegen diese Großtrends bringt Seehofer nun nicht den Nationalstaat in Stellung, als politischen, von Grenzen geschützten Container für demokratische Teilhabe, Rechtsstaat, Sicherheit, Daseinsvorsorge, aber auch "Identität", sondern die "Heimat". Und da fällt der bemerkenswerte Satz: "Für mich ist der Begriff der Heimat zentral, weil er in seiner Vielfältigkeit weniger streitbelastet ist als Leitkultur oder Nation."
Weniger streitbelastet, das ist untertreibend gesagt, man könnte auch sagen: weniger politisch und, ja, weniger neuzeitlich. Wird damit die fruchtlose Leitkultur-Debatte der letzten zwanzig Jahre abgeräumt? Seehofer erläutert, dass "Deutschland seit Jahrhunderten der Ort in der Mitte Europas ist, der Menschen zur Heimat wurde, indem sie hier Halt fanden (...). Über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart gibt es unzählige imposante Beispiele für die Fähigkeit Deutschlands, unterschiedlichsten Menschen zur Heimat zu werden."
Deutschland wurde erst spät zu einer Nation
Damit verweist der Minister auf historische Grundbedingungen Deutschlands: ein geografisch unklar abgegrenzter, durch Grenzen schwer zu sichernder Raum, jahrhundertelang ein Durchzugsgebiet von Völkern (und auch von Armeen), ein Kreuzweg von Wanderungen seit prähistorischen Zeiten - jedes Heimatmuseum weiß davon zu berichten.
Deutschland wurde erst spät zu einer Nation, ganz hat es sich mit dieser der Französischen Revolution entsprungenen Form nie angefreundet. Der Begriff der Nation ist genuin politisch, die Zugehörigkeit zu ihr ist verrechtlicht und mit abstrakten kulturellen Lasten beschwert, wie sie Gemeinschaften von vielen Millionen zwangsläufig erfordern. Heimat dagegen ist auf dem Platz. Hier lebt die Gesellschaft auf Sichtweite in Zusammenhängen, in denen die Menschen sich kennen können.
Dass Heimatgefühle intolerant, ausgrenzend sein können, bleibt unbestritten. Dafür hat die Heimat den Vorzug des Vorpolitischen: Über Zugehörigkeit zu ihr entscheiden nicht Staatsbürgerschaft, Abstammung, politische Bekenntnisse, sondern das gelingende Zusammenleben, das Vertrauen unter Anwesenden. Ob Integration gelingt, lässt sich kaum durch Einbürgerungstests ermitteln, wohl aber aus der Stimmung im Kiez. Dass Seehofer Heimat an die "Vielfalt unterschiedlichster Menschen" bindet, ist begriffspolitisch ein kluger Zug. Er verbindet das Urkonservative mit den aktuellen Realitäten und entlastet den weiterhin unverzichtbaren Begriff der Nation von identitären Anforderungen.