In vielen Hotelzimmern hängen Bilder, die einen Eindruck vom jeweiligen Land und seinen Menschen vermitteln sollen. Meistens sind es martialische oder naive Motive, und die darauf abgebildeten Personen sind, augenscheinlich glücklich, in eine beschauliche oder dramatische Landschaft gesetzt.
Sie schwenken Speere, Säbel und Gewehre - oder sie arbeiten, stampfen Reis oder Getreide, hüten Vieh oder verkaufen etwas. Manchmal posieren sie nur vor einem malerischen Sonnenuntergang. Oft haben sie, egal, bei welcher Tätigkeit, Kinder umgebunden. In alpinen Gegenden ist die Magd mit Ziegen oder Schafen im Gegenlicht beschäftigt, während sich der Bauer mit gekrümmtem Rücken an der Scholle abarbeitet - all das vor einem theatralischen Himmel.
Filmprojekt von Michael Glawogger:Vom Zauber des Augenblicks
Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Michael Glawogger ist zu einer ungewöhnlichen Reise aufgebrochen: Ohne Script und ohne Plan will er sich ein Jahr lang um die Welt treiben lassen und spontan alles Interessante aufnehmen. Mit dabei ist Süddeutsche.de: Der Filmemacher berichtet über seine Abenteuer im Doku-Blog.
Die andere Variante von Hotelzimmer-Wandschmuck sind Reproduktionen berühmter Werke - und dabei sind Van Gogh-Gemälde oder ikonische Fotografien offenbar am beliebtesten. James Dean auf dem Broadway, die vespernenden Arbeiter auf dem Stahlträger über New York oder der Pariser Kuss von Robert Doisneau - alles wunderbare Bilder, deren unmittelbare Verständlichkeit ihnen das Schicksal massenhafter Vervielfältigung eingebracht hat.
Sie sind so oft zu sehen, dass sie unsichtbar geworden sind wie ein Klimt-Poster in einem Ikea-Schlafzimmer oder eine Flugbegleiterin, die einer vollen Frühmaschine die Sicherheitsvorschriften demonstriert. Letzterer bleibt diese Demütigung durch Nichtbeachtung seit Einführung einer digitalen Kollegin immerhin erspart.
Im Marokko des Jahres 2014 sah er, während Flugzeuge mit solchen digitalen Unterweisungen über ihm den Himmel kreuzten, viele Menschen warten. Gut, gewartet wird oft auf der Welt, und meistens macht die Umgebung klar, worauf gewartet wird. Aber hier war es nicht so einsichtig, worauf die Menschen am Straßenrand, vor ihren Häusern und in den Cafés denn warteten.
Fesselnde Unerklärlichkeit
Auch, als er sein Hotelzimmer in Erfoud betrat, sah er als erstes das Bild einer Wartenden. Einer glücklich Wartenden. Sofort beneidete er den Maler um dieses Motiv. Wartende halten still, man hat Zeit, sie darzustellen - und ihm schien, als wäre dieses Bild auch ein wenig weniger unsichtbar, als es Hotelzimmerbilder sonst zu sein pflegen.
Er hielt also inne, ließ den Koffer sinken und betrachtete das Werk. Ja, es gefiel ihm. Eine Ruhe ging davon aus, und es entsprach dem, was er den ganzen Tag aus dem Auto heraus wahrgenommen hatte - mit der Ausnahme eines Mannes, der über sein Feld gestapft war, mit suchendem und gleichzeitig forschem Gang, eine Schrotflinte schussbereit in der Hand.
Was der wohl gesucht hatte? Er dachte an Schlangen, aber im jetzt winterlichen Atlas müssten die sich eigentlich verkrochen haben, anstatt unterwegs zu sein. Was immer es war, es hätte ein Bild der martialischen Sorte gegeben, wäre des gemalt worden. Und es war - wie das Warten - unerklärlich, und diese Unerklärlichkeit fesselte ihn, am Einen wie am Anderen.
Warten ist also marokkanisch, rotbackige Weinseligkeit österreichisch, Riksha-Fahrer subkontinental, und arbeitende Bauersfrauen westafrikanisch - zumindest, was die museale Seite von Hotelzimmern betrifft. Und da er zunehmend das Gefühl hatte, dass die Welt dabei ist, sich in ein Museum zu verwandeln, in dem man einer Führung durch das eigene Leben beiwohnen kann, war ihm das auch nicht verwunderlich. Und doch - welche anderen Bilder könnte man machen, um dem Charakter eines Landes nahe zu kommen?
Arbeit: Ein Massai, der mit seiner Moto-Cross-Maschine zwischen Diamanten-Mine und Straßenstand pendelt? Ein Schweizer Banker beim Networking? Eine verschleierte Frau, die ihr Eselsfuhrwerk durch den Verkehr pilotiert? Freizeit: Männer, die in einem Café Champions-League schauen? Andere Männer, im Freudentanz nach dem Tod Osama Bin Ladens? Eine andere verschleierte Frau, die in der Bar eines Hotels mit ihrem Handy telefoniert, wozu eine Bauchtanztruppe den folkloristischen Hintergrund liefert?
Das Bild des Menschen ist also eine komplexe Angelegenheit, Globalisierung hin oder her. Und doch wiederum: Ließ sich ein Bild finden, das all dies konzentrieren würde? Gäbe es eine zweite Arche Noah - wer würde die Menschheit repräsentieren? Er sah diese Arche vor sich. Sie war nicht mehr aus Holz, sondern aus Plastik und anderen recycelten Materialien, und erinnerte ihn an eine riesige Luftmatratze aus Ölkanistern, Autoreifen und Coca-Cola-Flaschen. Die Fahnenstange der untergehenden Welt war aus zusammengeklopftem Blech.
Als die große Flutwelle kam, und zuerst Amerika und Europa verschlang, verlor das letzte Handy seinen Empfang. Aber niemand auf diesem Schiff schien es zu bemerken, denn scheinbar war kein Mensch an Bord.
Am nächsten Tag sah er einen kleinen Jungen auf einer Müllhalde aus Plastik stehen. Er fotografierte ihn. Ein oft gemachtes, ganz und gar naives Bild. Und doch - vielleicht schmuggelt sich gerader dieser kleine Junge auf das letzte Boot, zusammen mit seiner Braut. Sie werden einander ausgesucht haben, gegen den Willen aller, die kein Berg, keine Brücke und kein Schiff mehr retten wird.
Und dann wird es längere Zeit keine Bilder geben.