"Der denkwürdige Fall des Mr. Poe" im Kino und auf Netflix:Mörder sammelt Herzen

"Der denkwürdige Fall des Mr. Poe" im Kino und auf Netflix: Christian Bale als Ermittler Augustus Landor und Harry Melling als junger Edgar Allan Poe.

Christian Bale als Ermittler Augustus Landor und Harry Melling als junger Edgar Allan Poe.

(Foto: Scott Garfield/AP)

Hat der junge Edgar Allan Poe, bevor er zum Dichter des Unheimlichen wurde, eine grausame Mordserie aufgeklärt? Scott Coopers Film "Der denkwürdige Fall des Mr. Poe" wagt eine historisch kühne Behauptung.

Von Nicolas Freund

Einmal flattert ein großer Rabe vor die Kamera, in eisiger Landschaft, die auch der junge Held der Geschichte gerade durchquert. Und natürlich soll man dabei an ein sehr berühmtes Gedicht denken, soll halb erwarten, dass der Rabe den Schnabel öffnet und mit menschlicher Stimme "Nimmermehr" krächtzt, wie seltsam und fantastisch auch immer, darum geht es doch: Ist nicht alles möglich in der Welt des Poeten und Gruselfürsten Edgar Allan Poe?

Scott Coopers Film "Der denkwürdige Fall des Mr. Poe" spielt mit solchen Erwartungen, die sich mit Poes Werk verknüpfen - aber er erfüllt sie nicht. Vor seiner Schriftstellerkarriere nämlich, im Jahr 1830, war Edgar Allan Poe ein Kadett an der amerikanischen Militärakademie West Point. Diese eher prosaische Tatsache nutzt der Film für eine erfundene Detektivgeschichte, in der zwar gruselige Dinge passieren, ein Rabe aber vorerst ein Rabe bleibt - und als solcher nicht weiter Aufsehen erregt.

Ein junger Soldat wurde erhängt am Ufer des Hudson River gefunden, und als ob dieser Tod eines Schutzbefohlenen nicht schon schlimm genug wäre, verschwindet auch noch die Leiche und taucht verstümmelt wieder auf: Dort, wo noch vor Kurzem ein Herz schlug, klafft nurmehr ein blutiges Loch. Für den jungen Edgar Allan Poe, der zufällig in die Ermittlungen hineingezogen wird, lässt die gezielte Entfernung dieses poetischsten aller Organe nur einen Schluss zu: Hinter den Morden steckt ein Dichter.

Weil die Oberkommandierenden der Akademie den Skandal fürchten, holen sie aber lieber eine Art Privatermittler - den ehemaligen New Yorker Polizisten Augustus "Gus" Landor. Der wohnt praktischerweise in der Nähe und ist noch dazu für seine pragmatischen Verhörmethoden sowie Expertise im Knacken von Codes bekannt. "Aufstandsbekämpfung" steht auch noch in seiner Vita. So jemand wird doch wohl einen Serienmörder oder Leichenschänder mit womöglich okkulten Neigungen überführen können.

Cooper bleibt nach seinem Horrorfilm "Antlers" von 2021 beim Unheimlichen, als Vorlage dient ihm der gleichnamige Roman von Louis Bayard. Den hat er, von Kürzungen abgesehen, ziemlich getreu verfilmt. Er schafft es sogar, die vielen Anspielungen auf Werke Edgar Allan Poes und die Unsicherheiten, die der Erzähler Gus Landor immer wieder streut, in Bilder zu übersetzen. Am eindrucksvollsten ist der Film auf der visuellen Ebene.

Der Kameramann Masanobu Takayanagi, der seit seiner Arbeit an "The Grey" mit Liam Neeson weiß, wie man harte Männer im Schnee ablichtet, hat die winterliche Akademie, den eisigen Hudson und die Uniformen der Rekruten wie klassische Gemälde in Szene gesetzt. Soldaten im Schwarz-Weiß der verschneiten Wälder, Dichter und Detektiv bei Kerzenschein, das erinnert an das Kostümepos "Barry Lyndon", mit dem Stanley Kubrick 1975 mal eben Bildsprache und Kameraarbeit des Kinos neu erfand.

Die Schauspielgarde, die der Film aufmarschieren lässt, wirkt in diesen durchkomponierten Bildern allerdings etwas verloren. Christian Bale als Landor verschwindet fast ganz hinter seinem riesigen Schnauzbart, Gillian Anderson und Charlotte Gainsbourg wirken in Nebenrollen verschenkt. Harry Melling, der in den "Harry Potter"-Filmen Dudley Dursley spiele, den verzogenen Cousin des Zauberlehrlings, überrascht dagegen als Edgar Allan Poe - die umständliche Sprache des jungen Dichters und sein gestelztes Auftreten kriegt er sehr gut hin. Wie authentisch das ist, sollte man nicht fragen, aber es ist in jedem Fall unterhaltsam.

Wie auch die Anspielungen auf Werke Poes, die allerdings oft besser versteckt sind als der Rabe, der sich genau vor die Kamera setzt. Bayard und Cooper machen sich einen Spaß daraus, schon alle möglichen Motive zu platzieren, die in späteren Jahren dann zu Werken wie "Der entwendete Brief" oder "Das verräterische Herz" geführt haben könnten. Diese zu entschlüsseln ist fast spannender als die Ermittlungen an der Militärakademie, die sich etwas hinziehen bis zur schon erahnten, großen Wendung am Ende.

Das geschickte Gewebe aus Fiktion und Fakten, aus erfundener Kriminalgeschichte und, zum Zeitpunkt der Filmhandlung, noch ungeschriebener Weltliteratur, geht aber auf erstaunliche Weise auf. Der Film zieht seine Betrachter in einen Mahlstrom aus Bildern und Zitaten, aus falschen Fährten und überraschenden Verbindungen. Was ihm fehlt, ist nur ein Herz.

The Pale Blue Eye, USA 2022. - Regie: Scott Cooper. Buch: Scott Cooper nach Louis Bayard. Kamera: Masanobu Takayanagi. Mit: Christian Bale, Harry Melling, Lucy Boynton. Netflix, 128 Minuten. Im Kino. Streamingstart: 6.1.2023.

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