Süddeutsche Zeitung

Schwund in der British Library:Muss hier irgendwo sein

Die größte britische Bibliothek vermisst 9000 Pracht-Bände. Sie wurden nicht gestohlen, sie wurden falsch zurückgelegt. Und sind darum mindestens genauso verschwunden.

Angela Ullmann

Täglich werden die Briten von neuen Verlustmeldungen geschockt, Banken gehen den Bach runter, Immobilienwerte schmilzen zusammen und jetzt das: Laut Guardian vermisst die British Library über 9000 Bücher.

Gut, wir sprechen von der größten englischen Bibliothek, 650 Regalkilometer mit 150 Millionen Bänden, aber dennoch: 9000 Bücher, manche Stadtteilbibliothek wäre froh, wenn sie soviel zu bieten hätte. Unter den vermissten Werken befinden sich Roman-Erstausgaben von Charles Dickens und Oscar Wilde, mittelalterliche Abhandlungen der Theologie und Alchemie, eine illustrierte Ausgabe von "Alice in Wonderland" aus dem Jahre 1876 und eine Sonderedition von "Mein Kampf", erschienen 1939, zu Hitlers fünfzigstem Geburtstag. Alleine die Erstausgabe von Wildes "Dorian Gray" ist 1300 Pfund wert. Naja, wäre 1300 Pfund wert.

Die Nationalbibliothek geht davon aus, dass nur wenige der vermissten Bücher tatsächlich verschwunden sind oder geklaut wurden. Der Großteil soll sich irgendwo in den unauslotbaren Tiefen der Regale befinden, was insofern überrascht, als einige der Bücher seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen wurden. Was haben die all die Jahre gemacht? Wo sind sie? Spielen sie Verstecken in der zweiten Reihe? Lesen sie einander nachts wispernd ihre Inhalte vor?

Unglücklicherweise gehen immer nur diejenigen Bücher verloren, die man gerade ausleihen möchte. Zehntausende Bände stehen still und starr in ihren Regalen, das eine aber, das man braucht, ist nicht zu finden. Weder die Bayerische Staatsbibliothek noch die Münchner Stadtbibliothek können auf telefonische Anfrage Auskunft bezüglich der Zahl ihrer vermissten Bücher geben: Dies könne nur bei Totalrevisionen, etwa anlässlich eines Umzugs definitiv festgestellt werden. Was nicht vermisst wird, ist noch da. Die Behauptung scheint zu stimmen: Bei der British Library wurden die meisten Buchverluste anlässlich des Umzuges 1998 festgestellt.

Die auf Bücherschutz spezialisierte Firma SA Secure sagt, manche Bibliotheken würden über die Jahre bis zu einem Fünftel ihres Bestandes verlieren. Die 9000 Bücher der British Library sind also bei einem Bestand von 150 Millionen Bänden eine absolute Erfolgsmeldung. Nur wer Bücher hat, kann sie "verlegen", und das tun sie ganz aus eigener Kraft, ohne Meisterdiebe oder den dilettantischen Bau neuer U-Bahntunnel.

Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.64, Mittwoch, den 18. März 2009

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