Schwindende Relevanz der Berlinale:Das Drama der ersten Nacht

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Mythos der glanzvollen Jahre: Warum will die Filmwelt im hippen Berlin alles feiern, nur nicht ihre wichtigsten Nächte?

(Foto: John Macdougall / AFP)

Wenn sich Filmfestivals mit der Konkurrenz messen wollen, sind Weltpremieren so etwas wie eine Währung der Relevanz. Die wichtigsten Filme der heute beginnenden Berlinale sind jedoch in anderen Teilen der Welt längst angelaufen. Leider ist das ein Beleg für den kontinuierlichen Abstieg der Berlinale.

Zur Mythologie des Filmfestivals gehört seit jeher das Drama der ersten Nacht. Der Meisterregisseur, der bis zur letzten Sekunde an seinem Film schneidet, die Cinephilen der Welt, schon versammelt in aufgeregter Erwartung; und dann die jungfräulichen Bilder, praktisch mit quietschenden Reifen aus dem Labor geholt, die erstmals das Licht der Leinwand erblicken - das ist immer wieder ein magischer Moment.

Sehnt sich das Kino, diese endlos reproduzierbare Massenkunst, in diesem Augenblick nach Theaterkribbeln und Konzert-Euphorie, nach dem Glanz eines unwiederholbaren Augenblicks? Ganz bestimmt. Und deshalb legen die großen Festivals auch so gesteigerten Wert darauf, wirkliche Weltpremieren zu bekommen - Bilder, die noch kein Blick zuvor gesehen hat, für die alle sich anstellen müssen, vom Chefkritiker der Variety bis zum Chefeinkäufer aus Hongkong. Sie bilden die Währung der Relevanz, die einzig gültige Maßeinheit in der weltweiten Konkurrenz der Festivals.

Misst man den Wert der Berlinale nach diesem harten Kriterium, dann hat sie in ihrer Ausgabe 2013, im elften Jahr unter Dieter Kosslick, einen neuen Tiefpunkt erreicht. Und man muss sie wohl daran messen - wie sonst sollte sie den Anspruch aufrechterhalten, in der Weltliga von Cannes und Venedig mitzuspielen?

Mit dem Eröffnungsfilm "The Grandmaster" geht es schon los. Wong Kar-Wai ist ohne Zweifel selbst ein Großmeister, zudem sicher ein guter Jurypräsident - und was das Drama der ersten Nacht betrifft, hat er in Cannes schon für legendäre Episoden gesorgt. Nur: "The Grandmaster" ist eben keine Weltpremiere. Seit einem Monat läuft der Film in China, dem gewaltigen Zukunftsmarkt des Kinos, in Hongkong, in Taiwan.

Kritiken stehen längst im Netz, und so magisch und schwerelos akrobatisch dieses Epos um den Martial-Arts-Guru Ip Man, bei dem der junge Bruce Lee in die Lehre ging, auch sein mag, der letzte Kick fehlt ihm schon jetzt.

Gus Van Sant muss gar nichts bieten

Oder "Promised Land", ein amerikanischer Film über die Armut der Farmer und die Umweltgefahren der neuen Erdgasförderung. Matt Damon und Gus Van Sant dürfen damit im Wettbewerb um den Goldenen Bären antreten - bieten mussten sie der Berlinale dafür offenbar nichts. Schon seit Ende Dezember läuft der Film ganz regulär in den USA, die Kritiker dort haben längst gesprochen (nicht wirklich positiv). Die Erwartungen sind, nun ja, gedämpft.

Anders, würde man hoffen, lief es bei Steven Soderbergh und seinem "Side Effects": Ein Thriller über Psychopharmaka und ihre Nebenwirkungen, angeblich Soderberghs letzter Film vor seinem selbst gewählten Kino-Ruhestand. Da sollte ein exklusives Kribbeln doch garantiert sein. Aber nein, vier Tage vor seiner Berlinale -Premiere kommt das Werk in den USA in die Kinos, und die Branchenblätter haben es auch schon rezensiert (sehr gemischt).

Man blättert weiter durchs Programm, und das Spiel wiederholt sich: "Before Midnight", Richard Linklaters dritter Streich mit Julie Delpy und Ethan Hawke - das klingt erst mal gut. Ihre Beziehungswirren werden weitererzählt über die Jahrzehnte hinweg. Erst trafen sie sich in Wien, dann kam Paris, nun sehen wir sie wieder in Griechenland.

Die Weltpremiere aber war bereits in Sundance - auch dieser Film ist längst von fremden Augen und Meinungen entweiht. In Sundance liefen außerdem "The Necessary Death of Charlie Countryman" von Fredrik Bond und "Prince Avalanche" von David Gordon Green.

Festivalmacher müssen Ansprechpartner auf Augenhöhe sein

Wenn Kosslick solche Regisseure in seinen Wettbewerb lässt, die nun alles andere als Stars sind - Bond ist sogar Spielfilmdebütant -, kann er nicht einmal dann auf dem Recht der ersten Nacht beharren? Wirklich nicht? Dann muss es um die Anziehungskraft der Berlinale , was die besten Filme betrifft, inzwischen ziemlich katastrophal bestellt sein.

Denn nur mal zum Vergleich: Cannes und Venedig präsentieren in ihren Wettbewerben durchgängig, praktisch ausnahmslos, echte Weltpremieren. Meist gilt das sogar für die Sondervorführungen, die außer Konkurrenz laufen. Die dortigen Festivalmacher beharren auf diesem Recht und bekommen es auch, ganz ohne Frage. Wer etwas anderes vorschlägt, wird dort nicht einmal ausgelacht, man schaut ihn nur völlig verständnislos an.

In Berlin ist dagegen eine Entwicklung eingetreten, die man als kontinuierlichen Abstieg beschreiben muss. Einmal in Gang gesetzt, verstärkt und beschleunigt sich dieser Prozess von selbst. Von wem will Kosslick in Zukunft noch Exklusivität fordern? Die Filmemacher müssen nur auf das Programm von 2013 verweisen, schon hat sich die Diskussion erübrigt.

Und drei weltweit geschätzte Regisseure in diesem Jahr, die sich wirklich für eine erste Nacht in der Berlinale entschieden haben, gegen andere Festivals, auf denen sie sonst präsent sind - der Österreicher Ulrich Seidl, der Franzose Bruno Dumont, der Koreaner Hong Sangsoo? Die sind auf der Erfolgsseite zu verbuchen -, sie bilden aber leider kein ausreichendes Gegengewicht mehr.

Schon wahr, die Berlinale hat ein paar strukturelle Nachteile, was ihren Zeitpunkt betrifft. Weltpremieren von späteren Oscar-Anwärtern oder sogar Oscar-Gewinnern, wie sie Cannes mehrfach gelungen sind, zuletzt mit Michael Hanekes "Amour", kann man so kurz vor der Oscar-Nacht nicht mehr erwarten. Erschwerend kommt das kalte Wetter dazu, die eisigen Winde auf dem Potsdamer Platz.

Andererseits: Hätte sich der fast unerklärliche und immer noch anhaltende Hipness-Boom, den Berlin bei Künstlern aus aller Welt erlebt, nicht auch irgendwie positiv auf die Berlinale auswirken müssen? Warum ist Berlin die Stadt, in der man unbedingt feiern will - nur nicht seine Weltpremiere im Kino? Das müsste jetzt auch mal dringend geklärt werden.

Ein guter Entertainer

Am Ende ist aber wahrscheinlich etwas ganz anderes entscheidend: Festivalmacher müssen, ähnlich wie die großen Kuratoren in der Bildenden Kunst, für die Filmemacher Ansprechpartner auf Augenhöhe sein, wirklich die "ersten Zuschauer" - noch besessener von der Filmkunst als die Künstler selbst, und womöglich noch kenntnisreicher. Thierry Frémaux ist der erste Zuschauer von Cannes, Marco Müller war der erste Zuschauer von Venedig, Alberto Barbera wird es in den nächsten Jahren sein. Dieter Kosslick war für eine solche Rolle nie geeignet.

Kosslick ist ein guter Organisator und ein guter Entertainer, mit seinem roten Schal und seinen Yoga-Geschichten hält er die Lokalpolitiker und die reißende Meute der Berliner Lokalpresse bei Laune, auch das muss man erst mal schaffen. Ein Mann mit leidenschaftlichem und allseits respektiertem Urteil über das Kino, gewonnen in lebenslanger Auseinandersetzung mit dem Medium, ist er aber gerade nicht. Und auf Dauer ist das einfach nicht genug.

Auf Dauer müssten auch bei der Berlinale die organisatorischen und die filmästhetischen Aufgaben dringend getrennt werden, was in Cannes schon ein beneidenswert gut funktionierendes Erfolgsmodell ist. Und sollte die Suche nach dem mutigen und besessenen Kino-Kurator, der neuen Respekt der Filmemacher gewinnen und das Schicksal der Berlinale noch einmal wenden könnte, nicht intern längst begonnen haben - dann wird es jetzt wirklich höchste Zeit.

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