Schwimmende Soziallabore:Ozeanisches Gefühl

Mikrogesellschaften auf schwimmenden Inseln

Seichte Gewässer, mildes Klima und einen kooperativen Drittweltstaat: Mehr brauchen die "Seasteader" nicht für ihre schwimmenden Soziallabore.

(Foto: DeltaSync)

Visionäre aus dem Silicon Valley halten die Demokratie für überholt. Auf schwimmenden Inseln planen sie Mikrogesellschaften, um mit neuen Staatsformen zu spielen. Vom Ideal des bunten Miteinanders im globalen Dorf haben sie sich abgewandt.

Von Jörg Häntzschel

Auf der Welt ist kein Platz mehr. Alles besetzt. Das ist keine neue Erkenntnis, doch vielen im Silicon Valley lässt sie keine Ruhe. Für sie ist der Globus ein Markt, den eine viel zu kleine Zahl von Monopolisten unter sich aufgeteilt hat: Sieben Milliarden Menschen sind "Kunden" von nur 192 Ländern.

Wo so wenig Wettbewerb herrscht, gibt es kaum Anreize und Möglichkeiten, neue Staats- und Regierungsformen zu entwickeln. "Die Demokratie hat das Leben von Milliarden Menschen verbessert, aber es ist eine 230 Jahre alte Technologie. Können wir nicht etwas Neues versuchen?", fragt Randolph Hencken. Er und andere Gründer des "Seasteading Institute" wollen genau das tun: in Mikrogesellschaften, die sie auf schwimmenden Inseln gründen wollen.

Die Idee stammt von Patri Friedman, dem 1976 geborenen Enkel des marktliberalen Ökonomen Milton Friedman. Sie kam ihm, als er über die Zeltkolonie von "Burning Man" spazierte, dem pseudo-tribalistischen Tech-Festival, das jedes Jahr in der Wüste von Nevada steigt. Anarchistische Theorien wie Hakim Beys "Temporäre Autonome Zonen", gelesen durch eine sehr amerikanische, weniger linke Brille, liefern den Überbau.

Der bescheidene Name, den Friedman für die Sezession auf See erfand, "Seasteading Institute", spielt an auf die "Homesteads", die Parzellen öffentlichen Lands, die Siedler im Amerika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts für sich reklamieren konnten. Doch er und Randolph Hencken denken viel größer. Was sie auf ihren schwimmenden Plattformen wiederholen wollen, ist die Neuerfindung einer Gesellschaft wie einst bei der Gründung der USA.

Dahinter steht die nicht nur im Silicon Valley verbreitete Ansicht, dass Amerika den Pragmatismus und die Freiheit, die es einst von Europas verknöcherten Gesellschaften unterschied, seit Langem verloren hat.

Mit einigen Ländern wird bereits verhandelt

In vielem teilen die Seasteading-Leute den Anti-Etatismus der Tea Party: "Wir wollen nicht mehr für unnötige Kriege bezahlen, für unnötige Drogenkriege, für einen aufgeblähten Wohlfahrtsstaat", so Hencken. "In den USA gibt es so viele Gesetze - es dauert Jahre, sie alle zu lesen. Das System ist so organisiert, dass der Einfluss der Regierung immer weiter wächst."

Doch im Gegensatz zu den Tea-Party-Aktivisten mit ihrem militant-sentimentalen Patriotismus ist die Frage nach der Heimat für die Seasteader lediglich eine nach günstigen Standortbedingungen. Deshalb fiel es ihnen auch nicht schwer, sich von der Hoffnung zu verabschieden, das politische System lasse sich von innen reformieren.

Ihre Offshore-Kolonien verstehen sie als neues, effizienteres Mittel der politischen Debatte. Statt "sich gegenseitig anzuschreien, Leserbriefe zu schreiben, zu versuchen, die lauteste Stimme zu haben und alle von der eigenen Meinung zu überzeugen - wie in der Demokratie eben -, demonstrieren wir lieber, was uns vorschwebt. Die anderen sollen dann selbst entscheiden, ob sie mitmachen wollen oder nicht."

Ursprünglich träumte Friedman von künstlichen Inseln in extraterritorialen Gewässern. Doch der Seegang, die Isolation und die Kosten schreckten selbst einen radikalen Neuerer wie ihn. Als praktikabler erwies es sich, vor der Küste eines willigen Drittweltstaates zu ankern. Die Gastnation, von der man Standplatz samt Autonomie least, profitiert auch vom Bau der Plattformen und der Versorgung der Bewohner. Mit einigen geeigneten Ländern wird bereits über einen Deal verhandelt.

Hoffnung auf die eigene Nation

Zum Beispiel Honduras. Flache Küstengewässer, angenehmes Klima und die Armut machen das kleine mittelamerikanische Land zum idealen Kandidaten. Nachdem sie etliche Orte nach Kriterien wie Wassertiefe, Strömung, Seegang und Entfernung zum nächsten Flughafen abgeklopft haben, empfahlen die Ingenieure von DeltaSync, einer niederländischen Firma, die sich auf Bauen im Wasser spezialisiert hat, den Auftraggebern aus Kalifornien in ihrer eben veröffentlichten Studie die Fonseca Bay als idealen Ankerplatz.

Mikrogesellschaft auf schwimmender Insel

Sollten sich anderswo günstigere Bedingungen bieten, lässt man Betonplattformen und Brandungsmauer eben dorthin schleppen.

(Foto: DeltaSync)

DeltaSync spielte unterschiedlichste Konstruktionen für die erste Siedlung durch: ein großes Schiff; eine Plattform, die wie eine Bohrinsel fest im Wasser steht; und - eine Idee wie aus einem Jules-Verne-Roman- Unterwasserbauwerke wie U-Boote auf permanentem Tauchgang. Der Sauerstoffbedarf der Bewohner und ihr zu erwartendes "mentales Unwohlsein" ließen diese Option ausscheiden.

Stattdessen empfahl DeltaSync ein Cluster schwimmender, hohler Betonquader, "gigantische Schuhkartons", die von einer ringförmigen Mauer gegen Stürme geschützt werden. Die erste Seekolonie soll aus elf dieser Module bestehen und 200 Menschen Platz bieten. Sie werden Fischfarmen betreiben, Algen anbauen - die meisten jedoch werden vor ihren solarbetriebenen Rechnern sitzen.

"Knowledge worker", so Hencken, stellen die Mehrheit der Interessenten. Ortsungebunden wie sie sind, werden sie am meisten vom wichtigsten Feature der Inseln profitieren, ihrer Mobilität: "Wenn das Regime der Gastnation wechselt, haben wir alle Freiheit, uns zu einem anderen Platz schleppen zu lassen", so Hencken.

Modell dafür sind die Praktiken findiger Weltkonzerne: "Wir hoffen, dass die Seasteads eines Tages als eigene Nationen anerkannt werden. Bis dahin könnten die Bewohner die Staatsbürgerschaft der Gastnation annehmen oder die eines anderen Landes und ihr Bankkonto in einem vierten haben. Wer weiß!"

Es riecht nach Neokolonialismus

Darin unterscheiden sich die Seasteads von Charter Cities und Start-up-Cities. Während es bei den Seekolonien vor allem um die maximale Freiheit der Bewohner geht, werden Letztere immer wieder als Methode gegen Armut und Unterentwicklung ins Spiel gebracht: Sonderzonen im Staatsgebiet von Entwicklungsländern mit wirtschaftsfreundlicher Gesetzgebung, die man entweder von einem westlichen Land übernimmt wie bei den Charter Cities; oder völlig neu erfindet wie bei den Start-up-Cities.

Das Vorbild sind prosperierende Neugründungen wie Singapur oder Städte mit Sonderstatus wie Hongkong oder Shenzen. Der Boom auf kleinem Raum soll den Rest des Landes mitziehen.

Doch die Tatsache, dass fremde Investoren und Verwalter oft in Personalunion ihre Visionen mitten in autonomen Staaten ausleben dürfen, dass sie dabei oft auf Billiglöhne oder Bodenschätze aus sind, lässt diese Projekte unweigerlich nach Neokolonialismus riechen.

Pläne für eine Charter City, die der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer Paul Romer entwickelt hatte, wurden 2011 vom obersten Gericht von Honduras verworfen. Auf See, weit weg von der lokalen Bevölkerung, wird man solche Konflikte elegant vermeiden, hofft Hencken.

Politisch "zurückgezogen"

Früher traten 20-Jährige an, die Welt zu verändern - und wurden belächelt. Heute sind es Valley-Milliardäre wie Peter Thiel, die zum Umsturz aufrufen. Ihr Geld und ihr Erfolg sichern ihnen Ohs und Ahs. Dass von der "disruption", die sie der Welt verschreiben, vor allem ihre eigenen Konzerne profitieren, stört nicht weiter.

Kleingesellschaft auf schwimmender Insel

Das Vorbild für die Seekolonien sind prosperierende Neugründungen wie Singapur. Der Boom auf kleinem Raum soll den Rest des Landes mitziehen.

(Foto: DeltaSync)

Thiel, der als Paypal-Gründer und Facebook-Investor reich wurde und unermüdlich für seine libertären, antietatistischen und radikal-kapitalistischen Überzeugungen wirbt, ist auch wichtigster Förderer des Seasteading-Projekts. Soll auf den Inseln also die Valley-Doktrin ohne lästige bürokratische Störung zur Marktreife gebracht werden?

Hencken weist das weit von sich. Dass Bürger ihr Land als Dienstleister betrachten, das sie wechseln können wie einen Handyprovider, das sei natürlich unverkennbares Silicon-Valley-Denken. Doch welches Betriebssystem sich die Insel-Siedler zulegen, das soll ihnen selbst überlassen sein. "Ich will Demokratie 2.0 sehen. Ich will Sozialismus 2.0 sehen. Ich will die Kommune 2.0 sehen. Probieren wir sie alle aus, dann wissen wir, was am besten funktioniert!"

Er selbst will sich weder als Libertär noch als links oder rechts bezeichnen. "Zurückgezogen", das beschreibe seine politische Position am ehesten.

Immerhin so viel will er verraten: "Wenn es mein Seastead wäre, dann würden dort einfache und für jeden nachvollziehbare Gesetze gelten. Sehr viel mehr als Menschenrechte und Common Sense wäre gar nicht nötig. Niemand müsste Anwälte engagieren, um sich vor der Regierung zu schützen. Ich wäre gerne bereit, für Gesundheitsversorgung, Feuerwehr und Polizei eine Gebühr zu zahlen, die von mir aus auch Steuer heißen darf. Nur darf diese Polizei eben keine Gesetze durchsetzen, die sinnlos und beliebig sind wie unsere. Ohnehin brauchen 200 Menschen viel weniger Gesetze als zig Millionen."

Reiz der Einigkeit

Im Seasteading-Traum verschmelzen also zwei alte amerikanische Ideale des Zusammenlebens: das der Kirchengemeinde und das der Kleinstadt. In Stellung gebracht werden sie gegen ein unübersehbares Dilemma der Demokratie in Flächenstaaten: Die Heterogenität und die Größe der Gesellschaft machen es immer schwerer, den politischen Konsens zu finden, ohne den eine Demokratie in Stillstand verfällt. Ob beim Klimaschutz, bei den Waffengesetzen oder der Einwanderung: Auch nach jahrzehntelangen Debatten bewegt sich in den USA nichts.

Der Reiz der Seasteads soll nämlich nicht nur in der Effizienz ihrer Verwaltung liegen, sondern in der Einigkeit ihrer Bewohner. "Die Welt wäre besser, wenn wir uns statt nach Hautfarbe, Herkunft oder Religion nach unserer ideologischen Haltung gruppieren würden", meint Hencken unumwunden. "Ich lebe gerne neben dir, weil wir dieselben Ansichten haben", beschreibt er das Prinzip, nach dem sich die Bewohner sortieren sollen: Jedem Ismus seine Insel. Und wenn es Streit gibt, ruft man die Schleppkähne, löst die Taue und wirft in neuer Konfiguration den Anker einen Kilometer weiter.

Selbstgewählte ideologische Segregation, Ghettos Gleichgesinnter, in denen sich zeitraubende Debatten erübrigen, "Stop fighting, start seasteading!", wie Randolph Hencken es griffig formuliert: Das ist eine radikale Kehrtwende nach den Jahrzehnten, in denen die Propagandisten des Silicon Valley nicht müde wurden, das bunte Miteinander im globalen Dorf zum Menschheitsziel zu erklären - und ihre Produkte als beste Instrumente, es zu erreichen. "Alles ist besser, als die Geisel eines Monopols zu sein, und unter der Tyrannei der Mehrheit zu leben."

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