"Schweigend steht der Wald" im Kino:Die Märchen, die wir uns erzählen

"Schweigend steht der Wald" im Kino: Mehreren Geheimnissen auf der Spur: Forststudentin Anja (Henriette Confurius) im Thriller "Schweigend steht der Wald". Die Romanvorlage und das Drehbuch stammen von Wolfram Fleischhauer.

Mehreren Geheimnissen auf der Spur: Forststudentin Anja (Henriette Confurius) im Thriller "Schweigend steht der Wald". Die Romanvorlage und das Drehbuch stammen von Wolfram Fleischhauer.

(Foto: Alpenrepublik GmbH/Panorama Entertainment)

Saralisa Volm bohrt mit ihrem Regiedebüt in den Wunden der deutschen Geschichte.

Von Sofia Glasl

In Märchen steckt ja meist ein Fünkchen Wahrheit. Doch was, wenn die böse Hexe im Knusperhäuschen eigentlich das Opfer war und ihre Geschichte die einer Selbstverteidigung? Was, wenn Hänsel und Gretel zwei kleinkriminelle Kinder waren, die das Haus der Frau erst aus Habgier leerräumten und dann abfackelten, um die eigenen Spuren zu verwischen?

In etwa so erklärt sich Studentin Anja die Vorgänge in jener Oberpfälzer Ortschaft, in der sie als Kind ihre Ferien verbrachte. Im Film "Schweigend steht der Wald" kommt sie zwanzig Jahre später nur vorgeblich als Forstpraktikantin in die Gegend zurück. Hier kehrte ihr Vater in den Siebzigern von einem Spaziergang nicht zurück, der Fall wanderte bald ungelöst in die Akten. Nun erhofft sie sich im umliegenden Wald Antworten.

Tatsächlich stößt sie bei der Land- und Bodenvermessung auf Unregelmäßigkeiten: Eine Lichtung muss vor Jahren sehr tief ausgehoben und umgegraben worden sein. Was liegt da verborgen unter der Erde? Schnell merkt Anja, dass ein größeres Geheimnis über dem Ort schwebt und die Alten sie deshalb so schnell wie möglich loswerden wollen. Ihr Nachname - Anja Grimm - ist sprechend: Sie zieht in den gottverlassenen Ort ein als Erzählerin neuer schauriger Märchen, um die Märchen zu hinterfragen, die sich die Bevölkerung über die eigene Geschichte erzählt.

Unweit der KZ-Gedenkstätte kämpft der kleine Ort ums Überleben

Es gibt eine neue Märchenerzählerin im Land: Die Filmemacherin Saralisa Volm hat sich für ihr Regiedebüt ein unbequemes Drehbuch ausgesucht. Wolfram Fleischhauer adaptiert dafür seinen eigenen Thriller, er spielt mit dem Schauplatz des Waldes als Sehnsuchtslandschaft, Märcheninventar und Ort von Naturmystik, denkt aber in diesen Symbolwelten auch die ideologische Überhöhung im Nationalsozialismus mit. Unweit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg kämpft der kleine Ort, den Anja Grimm besucht, ums ökonomische Überleben. Ein Märchenwald als Vergnügungspark soll es richten. Hinter dem wortkargen Oberpfälzer Dialekt wird ein pervers pragmatischer Optimismus spürbar.

Der Film lässt all die vergrabenen Geheimnisse lange unter der Erde faulen und baut geduldig ein Unbehagen beim Zusehen auf. Nicht nur Anjas Forschungsergebnisse widersprechen den Geschichten der Einheimischen, allein ihre Anwesenheit scheint alte Wunden in der Gemeinschaft wieder aufzureißen. Ein brutaler Mord versetzt den Ort endgültig in Aufruhr. Eine sonst stoische Alte, Waltraut, rastet aus: Was sie von ihnen wolle und wie viele Menschen noch sterben müssten, bis Anja sie endlich in Ruhe lasse? Immer wieder schaut Waltraut sich erschrocken um, fühlt sich im Wald beobachtet oder gar verfolgt.

Die Mechanismen kollektiven Verdrängens sind also das Thema. "Schweigend steht der Wald" ist immer dann besonders effektiv, wenn die Symbolebenen ineinander verschwimmen. Die assoziative Bildsprache zwischen mikroskopischen Naturaufnahmen und Erinnerungsfetzen aus Anjas Kindheit beschwört unaussprechliche Dämonen, die nicht nur mit Anjas eigener Geschichte zu tun haben. So deutet sie Zusammenhänge an, die unterhalb der Ebene des Erzählbaren liegen.

Ein modernes Märchen: von der Männerfantasie in Hotpants zur umjubelten Regisseurin

"Schweigend steht der Wald" ist ein beeindruckend selbstsicheres Regiedebüt - von Saralisa Volm, einer Frau, die sich auch im realen Leben gegen Märchen stemmt. Einst von Klaus Lemke in Hamburg entdeckt, hat sie sich vom Image der Projektionsfläche mit tiefem Dekolleté und Hotpants gelöst und ist mittlerweile mit ihrer eigenen Produktionsfirma Poison im Zentrum des unabhängigen deutschen Films angekommen. In Interviews und in ihrer Arbeit kritisiert sie die männlich geprägten Strukturen in der Filmbranche. Mit Drehbuchautor Wolfram Fleischhauer realisierte sie 2017 bereits "Fikkefuchs" über Männerfantasien und spielte in RP Kahls "Als Susan Sontag im Publikum saß" die Frauenrechtlerin Germaine Greer. Zugleich aber wehrt sie sich gegen das Image der "Powerfrau". Immer wieder fragen Journalisten sie, wie sie vier Kinder und diese steile Karriere jongliere und obendrein wie das blühende Leben aussehe. Sie sagt dann regelmäßig, dass das alles eigentlich nur so mittelgut klappe. Mit ihrem Instagramprojekt @365_imperfections dokumentierte sie persönliche wie karrieretechnische Rückschläge. Seit mehr als einem Jahr ruht das Projekt: "Ich habe einfach keine Zeit, all meine Fehlschläge, Probleme, Baustellen und Fragen zu sammeln", schrieb sie im April 2021. Scheitern als Selbstbehauptung, als Protest.

Apropos Selbstbehauptung. Ein wenig schade ist, dass der Film im letzten Drittel die Motive explizit benennt, die zu dem unheimlichen Nebel aus Symbolen und Andeutungen im Dorf führen. In einer Beichte platzt aus Waltraut, der Alten, heraus, was schon längst in der Luft hing - das schneidet den psychologischen Schrecken abrupt ab. Üblicherweise hat, wenn derartiges passiert, die Produktion der Regie dazwischengefunkt. Irgendein Mensch, der Geld zu verlieren hat, wollte das Unerklärliche dann doch noch gern erklärt haben, damit die Leute erlöst ihre Cola austrinken können, bevor das Licht im Kinosaal angeht. In diesem Fall aber gibt es keinen Chef, Volm hat den Film selbst produziert. "Nur Mut!", will man beim Gucken rufen.

Die Wirkung des düsteren Nervenzerrens von "Schweigend steht der Wald" verfliegt aber auch dadurch nicht, dass der Schluss prosaisch die Geheimnisse ausplaudert. Es macht Saralisa Volm zu einer der unverfälschtesten und vielversprechendsten Stimmen im deutschen Kino.

Schweigend steht der Wald, Deutschland 2022 - Regie: Saralisa Volm. Drehbuch: Wolfram Fleischhauer. Mit: Henriette Confurius, Noah Saavedra, August Zirner, Robert Stadlober. Alpenrepublik, 90 Minuten.

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