Literaturnobelpreis:Eine Akademie? Eher ein Korb faules Gemüse

Sitzung der Schwedischen Akademie

Die Schwedische Akademie bei der jährlichen Hauptversammlung kurz vor Weihnachten.

(Foto: dpa)
  • An diesem Donnerstag kehren Kjell Espmark und Peter Englund in die Schwedische Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt, zurück. Anfang April 2018 waren sie im Zuge eines heftigen Streits in der Akademie zurückgetreten.
  • Monatelanges Krisenmanagement hat die Krise der Akademie jedoch nur noch größer werden lassen.
  • Bisher gab es in Schweden keinen ernsthaften Versuch, eine systematische Erklärung für den scheinbar so plötzlich eingetretenen Niedergang zu finden.

Von Thomas Steinfeld

Als die Schwedische Akademie in den Sechzigern erwog, den japanischen Schriftsteller Yasunari Kawabata mit dem Nobelpreis für Literatur auszuzeichnen, wussten ihre Mitglieder, dass ihre Sachkenntnisse nicht ausreichten, um eine solche Entscheidung zu begründen. Da ihnen jedoch daran gelegen war, einen Nobelpreisträger aus dem Fernen Osten zu küren, bauten sie ein ganzes Netz aus Referenten und Sachverständigen auf, um am Ende sogar noch einen Kundschafter nach Japan zu entsenden. Von dort berichtete dann John Rohnström, das japanische Volk warte "mit großem Eifer" auf einen Nobelpreis.

Dennoch scheint jene Entscheidung, wie der schwedische Literaturkritiker Kaj Schueler nun berichtete, nachdem er die gerade freigegebenen Akten der Akademie aus dem Jahr 1968 hatte einsehen können, lange umstritten gewesen zu sein. Als sie dann für Yasunari Kawabata fiel, hatten der irische Dramatiker Samuel Beckett (er bekam den Nobelpreis im Jahr darauf zugesprochen), der französische Abenteurer (und Kulturminister) André Malraux und der englisch-amerikanische Lyriker W. H. Auden das Nachsehen. Die beiden Letzteren sollten die Auszeichnung nie erhalten. Die Akademie, versichert Kaj Schueler, hatte sich bemüht, "neue Sprachgebiete und Weltteile zu erobern".

Die Mitglieder der Akademie waren bescheiden und neugierig gewesen, vorsichtig und fleißig. Und sie hatten ein Bewusstsein davon besessen, dass der Nobelpreis für Literatur wichtiger war, als sie selbst in ihren Leben je hätten werden können. Das Komitee, das die Entscheidung für einen Nobelpreisträger vorbereitete, wurde zu jener Zeit von Anders Österling, einem heute fast vergessenen Lyriker aus Schonen, geleitet. Unter seiner Regie agierte die Akademie als ebenso zurückhaltende wie selbstbewusste Autorität, die ihr Nachrichtensystem in ferne Länder ausdehnte, um einer Angelegenheit habhaft zu werden, die Johann Wolfgang Goethe "Weltliteratur" genannt hatte - damit eher deren Verbreitung und Übersetzung als deren Bedeutung meinend.

Was würde nun geschehen, wenn eines nicht allzu fernen Donnerstags der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie vor die Flügeltüren des Sitzungsraums träte, um der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass der Nobelpreis des Jahres 2019 an den "japanischen Schriftsteller Haruki Murakami" gehe? Ein gequältes Stöhnen zöge sich durch Tausende Kulturredaktionen auf der ganzen Welt, und mindestens ebenso viele Literaturkritiker stürzten zu ihren Tastaturen, um Sätze zu schreiben, die ungefähr so lauteten: "Die Akademie, nach zwei Jahren Skandal bis ins Mark geschwächt, sucht ihre Autorität zurückzugewinnen, indem sie sich für einen der bekanntesten Schriftsteller der Welt entscheidet."

Hätte die Akademie hingegen einen eher unbekannten Poeten gewählt, würde sie sofort auf offenes Misstrauen stoßen, auf den Verdacht, es habe ihr an Urteilsvermögen gefehlt oder es stecke wieder einmal Korruption dahinter - so, wie es war, als Gao Xingjian im Jahr 2000 den Preis erhielt, nur viel schlimmer. "Man braucht nicht lange nachzudenken", meinte der britische Schriftsteller Tim Parks im Mai 2018 in einem Artikel für die New York Times, um zu verstehen, "dass dieser Preis nie auch nur die geringste Glaubwürdigkeit besaß. Er konnte sie nicht besitzen. Er ist Unsinn."

Trotz der Rückkehr bleiben viele Skandale und Streitthemen ungeklärt

Wenn an diesem Donnerstag nun Kjell Espmark und Peter Englund, zwei der drei Abtrünnigen der Akademie, zu ihren Stühlen zurückkehren, wird die Institution eine andere sein als die, die sie im April vergangenen Jahres unter Protest verließen. Fünfzehn Monate Krisenmanagement haben die Krise der Akademie nur noch größer werden lassen. Katarina Frostenson, die Lyrikerin, die Interna verraten haben soll, ist immer noch nicht ausgeschieden, und ihr Anwalt verlangt nicht nur eine Entschädigung für ein in Zukunft nicht gezahltes Einkommen (als ob die Akademie ein gewöhnlicher Arbeitgeber wäre, mit Anstellungen auf Lebenszeit), sondern brachte es auch fertig, das Ansinnen, die Dichterin loszuwerden, als unredlich darzustellen. Das Verfahren wegen einer Reihe betriebswirtschaftlicher Verfehlungen gegen Katarina Frostenson und ihren Mann, den wegen Vergewaltigung verurteilten Jean-Claude Arnault, ist noch nicht abgeschlossen. Ferner scheint die Akademie unproduktive Schriftsteller zu belohnen, die im Verfahren gegen Arnault zu dessen Gunsten aussagten. Und Horace Engdahl, das berühmteste Mitglied der Akademie, nahm weder seine anzüglichen Lobreden auf den Freund Arnault zurück noch seine verächtlichen Äußerungen zum schwedischen Rechtswesen. Man könnte diese Liste beträchtlich verlängern. Doch kurz gesagt: Die Arbeit der Akademie scheint nach wie vor von Willkürakten, Herrschaftsallüren und gegenseitigen internen Rücksichtnahmen bestimmt zu sein.

Worauf gründet nun die Hoffnung, dass die beiden Rückkehrer plus fünf auswärtige Experten, die im November hinzugerufen wurden, mitsamt vielleicht zwei neu hinzugewählten Mitgliedern der Akademie einen "Neustart" ermöglichen können? Gleicht diese Institution nicht einem Korb mit faulem Gemüse, das wieder frisch werden soll, weil man ein paar gerade gepflückte Gurken hineinlegte? Das gilt um so mehr, als es seit Beginn der Krise im November 2017 - als Jean-Claude Arnault zahlreicher sexueller Übergriffe bezichtigt wurde - in Schweden nicht einen einzigen ernsthaften Versuch gab, eine systematische Erklärung für den scheinbar so plötzlich eingetretenen Niedergang der Akademie zu finden.

Ist die aktuelle Krise nur ein Ausdruck eines tieferliegenden Konflikts?

Ist es nicht sonderbar, dass eine bis dahin höchst renommierte Institution innerhalb weniger Monate so tief sank, dass die New York Times schreiben konnte: "Der Nobelpreis für Literatur ist schon als solcher ein Skandal"? Und dass der Anlass dieses Zusammenbruchs wiederum ein Skandal sein sollte, der nur peripher mit der Akademie zu tun haben kann? Ist es nicht vielmehr wahrscheinlich, dass die aktuelle Krise nur ein Ausdruck eines älteren, tieferliegenden Konfliktes ist?

Es sind nicht viele Errungenschaften, die Schwedens Ansehen in der Welt begründen: eine Firma namens Ikea, die den halben Erdball mit einer jung wirkenden, funktionalen und modernen Einrichtung versorgt, eine Popgruppe namens Abba, die eine zumindest noch halb anstößige Jugendkultur in ein musikalisches Vergnügen für alle Generationen verwandelte, und der Nobelpreis für Literatur, der den Idealismus bediente, man könne alle Völker der Welt in der Lektüre anspruchsvoller Bücher einen. Falls es in der Geschichte überhaupt einmal eine gute Nation, im moralischen Sinn, gegeben haben sollte, dürfte es Schweden zur Zeit Anders Österlings gewesen sein: Ein Land zwischen den politischen Blöcken, neutral und vermittelnd, eine in jeder Beziehung zivile Gesellschaft mit ungebrochenen Traditionen, ein Land, das sich überall auf der Welt für die Schwachen und Verfolgten engagierte, weit jenseits dessen, was man von einer kleinen Nation am Rande Europas hätte erwarten können.

Der Nobelpreis für Literatur war von vornherein eine hohe Auszeichnung gewesen, in einer Zeit, in der es noch keine anderen internationalen Preise gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg indessen, mit dem Aufstieg Schwedens zur moralischen Großmacht, wurde der Preis zur bedeutendsten Auszeichnung, die ein schreibender Mensch überhaupt erringen konnte. Dieser Erfolg beruhte keineswegs nur auf dem wachsenden globalen Nachrichtenverkehr und dessen technischen Fortschritten. In weit höherem Maß gründete er auf der besonderen Stellung Schwedens in der Welt.

Von dieser Stellung ist nicht viel übrig geblieben, aus vielen Gründen, vor allem jedoch, weil der Gegensatz der politischen Blöcke hinfällig wurde. Die Akademie schloss diese Epoche ab, indem sie den Nobelpreis an Günter Grass verlieh. Die Aufmerksamkeit der Medien blieb der Akademie jedoch erhalten, indem sich Bekanntgabe und Verleihung des Nobelpreises in ein Spektakel verwandelten. In der Folge verlor die hoch entwickelte literarische Diplomatie, die Yasunari Kawabata zu seinem Preis verholfen hatte, an Bedeutung. An ihre Stelle rückte die Akademie selbst. Die für eine Institution grundlegende Unterscheidung zwischen Person und Amt wurde verwischt, einzelne Mitglieder der Akademie wurden zu Prominenten, die Akademie und der Nobelpreis verschmolzen zu ein und derselben Angelegenheit.

Eine Erklärung zur amerikanischen Literatur hätte als Warnung dienen können

Eine Reihe von aparten Entscheidungen - die Nobelpreise für Dario Fo, Gao Xingjian und Elfriede Jelinek beispielsweise - waren vermutlich ebenso Konsequenz dieser Verschiebungen wie das kleine Buch, mit dem Sara Danius (bis April 2018 Ständige Sekretärin der Akademie) den Nobelpreis für Bob Dylan rechtfertigte. Als Liebeserklärung mag diese Schrift taugen. Indessen weiß die Kritik so viel über den Unterschied zwischen "lyrics" und Lyrik, dass sie einer international renommierten Literaturwissenschaftlerin eine völlige Unkenntnis in solchen Dingen kaum durchgehen lassen kann.

Anders gesagt: Schon bevor der Skandal begann, hatte es wenig Anlass gegeben, auf die Integrität der Mitglieder in dieser Akademie zu vertrauen. Spätestens Horace Engdahls Erklärung aus dem Herbst 2008, die amerikanische Literatur könne sich nicht mit der europäischen messen, ihrer "Isolation" und "Engstirnigkeit" wegen, hätte als Warnung dienen müssen, dass eine weltberühmte Institution aus Zeit und Zusammenhang zu fallen drohte.

Hätte eine solche Entwicklung aber verhindert werden können? Gewiss, mit den Mitteln Anders Österlings: mit Bescheidenheit und Geduld, mit Neugier und Fleiß, mit einem Regelwerk, das um so strenger hätte gelten müssen, je weniger davon geschrieben steht, und mit einem klaren Zweck: die "Weltliteratur", in einem vornehmlich pragmatischen Sinn, zu befördern. Ohne eine solches Regelwerk und ohne einen solchen Zweck ist die Akademie das, was Tim Parks von ihr behauptete: ein Selbstbetrug, in den Sand veränderlicher ästhetischer Vorlieben gesetzt. Bislang ist nicht zu erkennen, dass die Akademie ihre Situation begriffen hätte.

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