Süddeutsche Zeitung

Lars Norén:Abscheu und Stille

Lesezeit: 5 min

Der weltberühmte schwedische Dramatiker Lars Norén knallt dem "Kulturpöbel" tausend neue Seiten seines Tagebuchs hin. Wenn er die Hasskappe aufsetzt, und das tut er häufig, gibt es kein Erbarmen.

Von Thomas Steinfeld

Vor wenigen Jahren noch war der schwedische Dramatiker, Regisseur und Lyriker Lars Norén einer der meistgespielten Theaterautoren der Welt. Seine Stücke, oft von einem finsteren Realismus getragen, wurden an der Comédie Française aufgeführt, am Royal Court Theatre in London und am Wiener Burgtheater. Thomas Ostermeier und die Berliner Schaubühne reisten mit ihrer Inszenierung der "Dämonen" (2010), eines Stücks über zwei Ehen in allseitiger Zerrüttung, um den halben Globus. Und wenn es in jüngster Zeit außerhalb Schwedens um Lars Norén stiller wurde, so muss das nicht an ihm liegen: Er schreibt weiterhin Theaterstücke - bislang sind es ungefähr achtzig, und sie werden nicht heiterer -, er führt auch Regie, und in seinem Heimatland hält man ihn ohnehin für den einzigen würdigen Nachfolger August Strindbergs. Eine Ahnung davon, worum es bei seinen Dramen häufig geht, ist sogar in die Alltagssprache eingegangen: Einen "norénare" nennt man auf Schwedisch eine besonders hässliche Szene zwischen Menschen, die sich gut kennen.

Mitte November ist in Schweden, in hellblaue Pappe mit Wolkenmuster gebunden, der vierte Band der Tagebücher Lars Noréns erschienen. Das Werk umfasst, wie schon jeder der früheren Bände, weit mehr als tausend Seiten. Die Schrift ist klein, und die Einträge, die oft mehrere Seiten lang sind, sind nicht gegliedert. Angefangen hatte Norén mit der Veröffentlichung seiner privaten Aufzeichnungen im Jahr 2008, als er, wenngleich redigiert, seine Erfahrungen und Gedanken aus den Jahren zwischen 2000 und 2005 der Öffentlichkeit darbot. In der jüngsten Lieferung geht es um die Zeit zwischen August 2015 und dem Frühjahr 2019 oder, anders gesagt, zwischen dem großen Zug der Flüchtlinge in den europäischen Norden und dem Brand der Kathedrale Notre-Dame de Paris.

Das Tagebuch ist ein Arbeitsjournal, eine Sammlung von Notizen zu Lektüren, die von Martin Heidegger über Simone Weil bis zu den Gedichten der jüngst mit dem Nobelpreis bedachten Louise Glück reichen, eine lange Klage über das Altern, eine große Liebeserklärung an seine kleine Tochter, eine Schmährede wider den Zustand der Welt im Allgemeinen und des schwedischen Feuilletons im Besonderen - und eine Chronik der alltäglichen Ereignisse, der Cafébesuche und der viel zu vielen Einkäufe (Norén ist ein manischer Käufer von Herrenoberbekleidung), der Busfahrten, Arztbesuche und gelegentlichen Spaziergänge.

Kritiker sind "Schakale", und der Rundfunkredakteur klingt wie "ein altes Sofa"

Es wird gegenwärtig viele Menschen geben, vor allem im schwedischen Kulturbetrieb, die ein Namensregister vermissen. Wenn Lars Norén sich die Hasskappe aufsetzt, und das tut er häufig, gibt es kein Erbarmen: Er bricht alte Freundschaften ab, wenn die Betreffenden im falschen Blatt publizieren. Vor der Schwedischen Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt, und ihrer "schmutzigen Halbwelt" ekelt es ihn. Kritiker, mit vollem Namen genannt, erscheinen ihm als "widerwärtige Raubtiere" oder "Schakale". Der Feuilletonchef der größten Tageszeitung des Landes soll sich durch "Feigheit, Mitläufertum, Angst", durch lauter "Lügen" und einen "schamlosen Mangel an Bildung" auszeichnen.

Im staatlichen Rundfunk wiederum arbeite, meint Lars Norén, ein Redakteur, der in seiner "frommen Bequemlichkeit" wie "ein altes Sofa" klinge, das schon seit Jahrzehnten in den Fluren des Senders stehe. Und so geht es fort, durch die Medien und die Politik bis zur Stadt, in der er lebt: Stockholm wird "verabscheut", weil die Bewohner sich dafür interessieren, wo es den besten Kaffee gibt, "während die Welt brennt". So wild schlägt er um sich, dass der Verlag nach nur wenigen Tagen gezwungen war, die erste Auflage der Tagebücher zurückzuziehen und eine Neuauflage in Auftrag zu geben: Der Autor hatte fälschlicherweise über eine Schauspielerin behauptet, sie sei an Demenz erkrankt. Unterdessen fehlt Lars Norén die Wahrnehmung, dass sich die eigenen politischen Überzeugungen vom linken Liberalismus jenes Feuilletonchefs wenig unterscheiden - und dass er selbst häufig in einem Café sitzt, das für seinen guten Kaffee bekannt ist.

Der Hass speist sich, wie meistens in solchen Fällen, zum einen aus der Enttäuschung darüber, den eigenen Idealismus nicht erfüllt zu sehen. Die Welt im Allgemeinen und der "Kulturpöbel" im Besonderen zeichneten sich dadurch aus, meint Lars Norén, dass sie niederen und falschen Impulsen folgten: dem Narzissmus, dem Ehrgeiz, der Korruption. Nun ist nicht auszuschließen, dass es sich tatsächlich so verhält. Allerdings wäre eine solche Ansicht zu begründen, und das tut man nicht, wenn man den eigenen Widerwillen für Kritik hält. Zum anderen dient die angeblich schmutzige Materie, der Norén sich ausgesetzt wähnt, dem Zweck, sich möglichst deutlich davon absetzen zu können: "Ich gehöre nicht, schon seit langem nicht mehr, zu der Kulturwelt, in der ich gelegentlich meinen Namen nennen höre, unnötigerweise."

"Ich suche ein Hinterland, einen Bereich, den es nicht gibt"

Es gibt Menschen, die der 76-jährige Lars Norén schätzt, Kollegen, Mitarbeiter, seine Kinder und vor allem seine jüngste Tochter. Ihnen sind die angenehmen Seiten eines Tagebuches gewidmet, das immer dann interessant und präzise wird, wenn er nur berichtet, von den Proben im Theater zum Beispiel oder vom Garten seines Sommerhauses auf Gotland. Das scheinbar Banale des Alltags, die Paketlieferungen und die Besuche im Supermarkt, werden mit einer Sorgfalt festgehalten, als gelte es, noch in der trivialsten Verrichtung einen höheren Sinn zu erkennen.

Doch sind die glücklichen oder auch nur in innerer Ruhe verbrachten Stunden selten, was vor allem daran zu liegen scheint, dass Lars Norén sich so häufig sehnt: Ist er in Stockholm, sehnt er sich nach Paris. Wächst seine Tochter heran, sehnt er sich zurück nach den Zeiten, als sie sechs Jahre alt war. Und lebt er, sehnt er sich danach, "die Welt zu verlassen". Norén hat recht, wenn er über sich selbst schreibt: "Ich suche ein Hinterland, einen Bereich, den es nicht gibt, wo das Leben beginnt und endet, einen Ort, an dem die Geburt und der Tod einander begegnen." Oft trägt dieses Hinterland den Namen "Martin Heidegger".

Lars Norén ist offenbar ein großer Leser, und die Werke einer existenzialistisch inspirierten Moderne scheinen ihn zu umgeben wie Hausgötter. Der mächtigste von ihnen ist offenkundig der Freiburger Philosoph, woran auch das Wissen um dessen Sympathien für den Nationalsozialismus nichts ändert: "Heideggers Philosophie ist eine grenzenlose Anziehungskraft - es gelingt ihr, all die Barbarei zu überstehen, deren sich Deutschland schuldig machte." Es mag aber sein, dass hier ein romantisches Missverständnis vorliegt: Lars Norén scheint unter dem "Sein" eine "Berührung mit dem Ursprung" zu verstehen, eine Art Offenbarung, also eben nicht die gegenständlich gedachte Leere der reinen Abstraktion, die Heidegger unter diesem Wort zu fassen sucht. Dieses Missverständnis hat Folgen: Nicht nur, dass der Autor von "Sein und Zeit" in die Nachbarschaft der katholischen Mystikerin und Sozialrevolutionärin Simone Weil rückt, sondern auch, dass er zum Philosophen der Sehnsucht wird: zum idealen Vertreter eines Verlangens nach "Authentizität", nach der bei Norén ohnehin alles strebt.

Der Dramatiker redet, während dem Theater nur existenzielle Stille bleibt

Während Lars Norén also vor sich hin schimpft und immer weiter schwärmt, arbeitet er in "Dramaten", dem schwedischen Nationaltheater in Stockholm, an der Inszenierung eines Werks, das im März 2017 dort uraufgeführt wird. Das Drama "Stilles Leben" ("Stilla Liv") soll ganz anders sein als welches "andere Theater" auch immer. Es besteht aus einer Abfolge von mehr als hundert Szenen, in der alle existenziellen Themen der Menschheit verhandelt werden, von der Geburt bis zum Tod, von der Arbeit bis zur Prostitution, vom absoluten Alleinsein bis zum Aufgehen in der Gemeinschaft.

Geräusche gibt es viele in diesem Drama. Aber niemand spricht. Vom Theater, das die Kunstform einer bürgerlichen Gesellschaft war, weil man sich im Spiel über sich selbst verständigen konnte, sind nur die Körper und der Raum geblieben, als Requisiten einer elementaren Frage nach dem Sinn. In das Vakuum, das ein solches Theater hinterlässt, tritt in Lars Noréns Tagebüchern der Dramatiker selber: Und er redet, redet, redet in einem fort.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5127195
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.