Schweden auf dem Filmfest München:Wer hat's erfunden?

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Bleich geschminkte Alltagsmenschen in ausgebleichten Räumen, verletztliche Miststücke, Apokalypse und Slapstick: Ein Besuch bei Roy Andersson und den jungen schwedischen jungen Filmemachern, die das Filmfest München vorstellt.

Rainer Gansera

"Eine Taube saß auf einem Zweig, das Dasein bedenkend". Arbeitstitel von Roy Anderssons neuem Film, der 2013 fertig sein wird. Zum Münchner Filmfest, das dem eigenwilligsten und berühmtesten Filmemacher des aktuellen schwedischen Kinos eine vollständige Retrospektive widmet, wird Andersson einige Szenen aus seinem work in progress mitbringen. Bei einem Vorab-Besuch in Stockholm, wo er in seinem "Studio 24" residiert, erklärt er schon mal die Galerie der neuen Szenenbilder.

Mit amerikanischen Genremustern gegen die Dominanz von Ingmar Bergman: der Dealer-Krimi "Easy Money" von Daniel Espinosa, zu sehen auf dem Filmfest in München. (Foto: Filmfest)

Was wird der philosophischen Taube durch den Kopf gehen? Das Tragikomische der menschlichen Existenz, eingefasst in gemäldehafte Tableaus, eine Fortsetzung der beiden vorangegangenen Filme, die Anderssons Ruhm begründeten, "Songs from the Second Floor" aus dem Jahr 2000 und "Das jüngste Gewitter" von 2007?

Bleich geschminkte Alltagsmenschen in ausgebleichten Räumen, als hätte Neo Rauch Hopper-Motive variiert. Stillleben der Einsamkeit und Verzweiflung, geerdet mit bitterer Komik. Apokalypse und Slapstick. "Mein Lieblingsmaler ist Otto Dix. Mich fasziniert diese Epoche der deutschen Malerei mit den Werken von George Grosz, Max Beckmann und dem, was als 'Neue Sachlichkeit' bezeichnet wird". Fünf Jahre und mehr braucht Andersson inzwischen pro Film. "Es ist schwierig, einfach zu sein, es ist unendlich schwierig, die exakten Nuancen der Expression zu treffen."

Andersson, 1943 in Göteborg geboren, sieht mit seinem karierten Hemd wie ein Handwerksmeister aus, die drei Etagen seines Studios mit Aufnahme-Atelier, Büro-, Projektions- und Schneideräumen sind eine Art Werkstatt-Königreich für ihn. Traum eines Filmemachers, der nie on location dreht, sondern alle seine Küchen-, Kneipen- und Straßen-Szenen in detailversessener Studio-Arbeit arrangiert: "Bei mir gibt es keine digitalen Effekte, alle Kulissen sind in Handarbeit gefertigt, und der Zuschauer soll die Sorgfalt des Handgemachten spüren können!"

Werden seine Figuren wieder ihre Phantasien, ihre Wunsch- und Alpträume erzählen wie im "Jüngsten Gewitter"? "Nein, diesmal nicht. Der Untertitel des Films lautet: 'Begegnungen mit dem Tod'". Dass der amerikanische Kritiker J. Hoberman ihn als "Slapstick Ingmar Bergman" titulierte, amüsiert ihn. "Bergman mochte mich nicht!"

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was die anderen Schweden auf dem Filmfest zu sagen haben.

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Ingmar Bergman, die immer noch überragende Gestalt des schwedischen Kinos, weiter präsent durch seine Filme, seine Bücher, durch die Studenten, die er als Lehrer betreute. Die Berlinale hat ihm dieses Jahr eine große Retro gewidmet. Die Außensicht - das Interesse, das Bergman im Ausland, in der Filmgeschichte gewidmet wird, seinem Werk, seiner Arbeitsweise, seiner Technik, wird in Schweden eher als Form der Hagiographie gesehen. Beim Abstecher zum Bergman-Archiv im Schwedischen Filminstitut darf man in seinen Notizheften blättern, DIN A5 Ringhefte aus dem Jahr 1975.

Clowns im Untergrund, an Untote erinnernd, aber voller Lebendigkeit: "Songs from the Second Floor" von Roy Andersson. (Foto: Filmfest)

Seine Handschrift, mit der die Zeilen ordentlich gefüllt sind, schwingt weich, nach links geneigt, wirkt "feminin". Man bekommt einen Satz übersetzt: "Ein neuer Film, der Bergman das Leben retten wird." Erste Notizen zu seinem Film "Das Schlangenei", den er 76/77 in München drehen wird. Sogar in seinen Liebesbriefen hat Bergman von sich in der dritten Person gesprochen. In seinen Filmen hat sich dieser "Dämon der Neurose", wie Fellini Bergman nannte, in der ersten Person offenbart und preisgegeben.

Auch Andersson hat seine Erfahrungen mit Bergman gemacht, in seiner Studienzeit an der Stockholmer Filmschule in den turbulenten, inspirierenden sechziger Jahren: "Ingmar Bergman war damals Präsident der Filmschule, und eines Tages zitierte er mich in sein Büro. Er warnte mich: Wenn ich immer nur diese Polit-Dokus gegen den Vietnamkrieg und dergleichen drehen würde, dann könne niemals ein ordentlicher Spielfilmregisseur aus mir werden. Politisch war Bergman erzkonservativ. Ich dachte, das werden wir schon sehen, vor dir habe ich überhaupt keine Angst!"

An Bergman macht sich in Schweden die Diskussion um Tradition und Moderne fest. Anderssons erster Spielfilm, die zarte Teenie-Romanze "Eine schwedische Liebesgeschichte" von 1970, erwies sich als Riesenerfolg, aber danach stürzte der Filmemacher in eine tiefe Depression: "Erfolg macht nicht zwangsläufig glücklich. Das war wie eine Art Kindbett-Depression. Ich war völlig ausgelaugt. Fünf Jahre später drehte ich 'Giliap': ein Riesenflop bei Publikum und Kritik."

Die nächsten 25 Jahre wird Andersson Werbespots drehen - die Ingmar Bergman als "die besten Werbespots der Welt" lobte. Ein Lob, auf das Andersson - wie er zögerlich zugibt - "dann doch richtig stolz" war. Bei der Arbeit an den Commercials entwickelte er seinen unverwechselbaren Tableau-Stil, mit dem er 2000 den in Cannes gefeierten "Songs from the Second Floor" gestaltete.

Für die jungen schwedischen Filmemacher, denen das Filmfest München seine Schweden-Reihe widmet, ist nicht mehr Ingmar Bergman die große Figur, an der man sich abarbeiten muss, ihnen steht Andersson als Prägung und Inspiration näher. "Für mich zählt Roy Andersson zu den besten Regisseuren der Welt", erklärt zum Beispiel Ruben Östlund: "Ich bin in den siebziger Jahren aufgewachsen und - wie alle Filmemacher meiner Generation - von den Andersson-Commercials geprägt. Wir alle haben den Surrealismus dieser Commercials im Blut, auch wenn wir stilistisch andere Wege gehen". Unter den Schweden-Filmen, die auf dem Filmfest gezeigt werden, gehört Ruben Östlunds "Play" zu den stilistisch verblüffendsten Arbeiten.

Eine distanziert beobachtende Kamera folgt - beinahe wie eine Überwachungskamera - dem in Realzeit ablaufenden Geschehen. Keine Großaufnahmen, keine dramatischen Schnitte. Das konventionelle Kino hält Östlund für eine Maschine, die sich nur noch selbst zitiert und keinerlei lebendigen Blick auf die Wirklichkeit mehr zulässt. In "Play" betrachtet er das Treiben einer Clique von fünf schwarzen Jungs, die drei kleineren weißen Jungs die Handys abluchsen. Als Filmer von Ski-Abfahrtsrennen hat Östlund zu seinem Stil gefunden, der in ellenlangen Einstellungen die Vorgänge aufzeichnet und den Zuschauer in ein abenteuerliches Hin-und-Her moralischer Selbstbefragung treibt.

Stilistisch am Gegenpol: die vibrierende, taktile Nähe in Lisa Aschans "She Monkeys". Die Beinahe-Liebesgeschichte von zwei jungen Mädchen, die sich in einer Voltigiergruppe treffen. In seiner unendlich einfühlsamen Sensibilität erscheint "She Monkeys" zuerst gar nicht wie ein schwedischer Film, wenn er Zärtlichkeit und Nähe zelebriert, wenn er auf Scham-und Schuldexkursionen verzichtet und Berührungen nicht gleich in Katastrophen enden lässt.

Umso erstaunlicher, dass dann doch Zartheit in Gewalt umschlägt und Liebessehnsucht in Konkurrenz. "Meine Heldinnen sind verletzliche Miststücke", sagt Lisa Aschan: "Ich hasse es, wenn Charaktere in Selbstmitleid versinken, da ist es mir schon lieber, wenn sie zu Biestern werden!"

Aschan ist Absolventin der renommierten Filmschule in Kopenhagen, an der nur alle zwei Jahre sechs Studenten aufgenommen werden - und wo einst auch Lars von Trier studierte. Sie fährt regelmäßig nach Berlin, um Frank Castorfs Inszenierungen an der Volksbühne zu bewundern, und liebt die Techno-Klänge Kölner DJs.

"Keiner darf mich berühren" ist das Mantra des jugendlichen Helden in Andreas Öhmanns "Im Weltraum gibt es keine Gefühle". Er heißt Simon und leidet am Asperger-Syndrom, das hier zur Metapher pubertärer Weltberührungsangst wird. Jede Berührung versetzt ihn in heillose Panik. Nur sein Bruder Sam darf in seine Nähe und setzt eine pfiffig ausgemalte Berührungs-Therapie in Gang.

Dass junge schwedische Filmemacher auch versiert mit Genremustern spielen können, beweisen Daniel Espinosa mit "Easy Money" und das Regieduo Martin Jern/Emil Larsson mit "Savage". "Easy Money" ist ein Schwedenkrimi, der einmal nicht aus der Ermittlerperspektive erzählt, sondern die Karrieren von drei Drogendealern im Action-Stil amerikanischer Milieu-Thriller verfolgt. Eine Kamera, die sich immer mitten in die Aktion wirft, eine Story, die das Multikulti-Dealermilieu durchstreift und der schwedischen Wohlfahrtsgesellschaft satirische Seitenhiebe versetzt. "Savage" badet mit jugendlichen Helden in düsterer Milieuschilderung und treibt seine No-Future-Apotheose ins Plakative einer Gesellschaftskritik, die alle denkbaren Verhängnisse der schwedischen Gesellschaft auflistet: religiösen Fundamentalismus, Kälte der Eltern, Flucht in Alkoholexzesse und Gewaltkriminalität.

Noch einmal trifft man am Abend Roy Andersson. Zur Begrüßung hebt er den Zeigefinger, lächelt listig und erzählt: "Als ihr nachmittags das Studio 24 verlassen habt, ist mir eine neue Szene für meinen Film eingefallen: Ein Mann mittleren Alters sitzt in einer Kneipe auf dem Barhocker und spricht mit traumverlorener, melancholischer Stimme in die Kamera: 'Ein weiterer Mittwoch, der vorüberging!'"

Die Vermutung liegt nahe, dass auch dieser Mann wieder bleich geschminkt sein wird und aussehen wie ein Gespenst aus dem Jenseits ... Aber nein: "Die weiß geschminkten Gesichter meiner Figuren", sagt Andersson, "bedeuten nicht, dass sie untote Tote wären. Das Weiß ist Mittel der Abstraktion, vergleichbar dem Weiß der Clowns oder der japanischen No-Masken. Das gehört zur Abstraktion meines Stils, eine Abstraktion, die die Figuren lebendig macht!"

Dann wechselt er über zu Kants kategorischem Imperativ - das Zentrum von Anderssons politisch-moralischer Weltsicht. Und zur Taube auf dem Zweig, die man sich als sattelfeste Kantianerin vorstellen muss.

© SZ vom 27.06.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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