Schwarze Kunst:Unter dem Serifendach

Schwarze Kunst: Schrift als Handwerk: hölzerne Letter in der „Tipoteca“.

Schrift als Handwerk: hölzerne Letter in der „Tipoteca“.

(Foto: Claudio Rocci/Tipoteca)

Die "Tipoteca" im italienischen Cornuda ist ein lebendiges Museum der Schriften. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf Strichstärken, Schattenachsen und Grauwerte.

Von Thomas Steinfeld

In einem Interview, das der Schriftsteller Karl Ove Knausgård vor Kurzem einer norwegischen Tageszeitung gab, erzählte er, wie er einen neuen Text beginnt: damit, dass er auf seinem Computer den Schrifttyp wählt. Er entscheide sich immer für denselben, sagte er. So wie er Musik ("War on Drugs", Bob Dylan, "Midlake") benötige, um überhaupt anfangen zu können, so brauche er die "Times New Roman", in einer Größe von zwölf Punkt.

Dieser Typ ist eine Zeitungsschrift, im Jahr 1931 geschaffen für die Times in London, robust, klar und für den Gebrauch auf schlechtem Papier und in hohen Auflagen konzipiert. Wegen eben dieser Qualitäten fand sie früh Eingang in die Programme zur Textverarbeitung. Sie dürfte gegenwärtig die gewöhnlichste Schrift überhaupt sein und ist etwa in amtlichen Schreiben allgegenwärtig.

In jeder Schrift verbergen sich ästhetische, praktische und intellektuelle Entscheidungen

Was die Entscheidung für die "Times New Roman" bedeutet, lernt man in einem Museum der Typografie verstehen, das in einem Weiler bei Cornuda, einem Städtchen in der Provinz Treviso im Nordosten Italiens, steht - mitten in den Hügeln zwischen Asolo und Valdobbiadene, die man der Villen Palladios wegen besucht. Gewiss, es gibt etliche solcher Einrichtungen in Europa, Museen, in denen sich die technischen Vorrichtungen, mit denen Schriften geschaffen wurden, betrachten lassen, die Werkzeuge, mit denen die Typen geschnitten, Gießapparate, mit denen sie gegossen wurden, Setzmaschinen wie Monotype, Linotype und Typograf, Handpressen; kurz: das Gerätewesen, das fünfhundert Jahre, seit der Erfindung des Buchdrucks, Bestand hatte, und das dann in wenigen Jahrzehnten obsolet wurde.

In den Sechzigern setzte sich der Fotosatz durch. Es folgten, mit überwältigender Gründlichkeit, die digitalen Satzverfahren. Sie ließen vom Handwerk des Setzens und Druckens kaum etwas übrig, von dessen Verfeinerungen zum Kunsthandwerk gar nicht erst anzufangen.

Die "Tipoteca" in Cornuda (www.tipoteca.it) unterscheidet sich von diesen Museen nicht nur dadurch, dass sie auf ihren Maschinen immer noch produziert (ähnlich wie das "Typorama" in Bischofszell oder das Museum für Druckkunst in Leipzig) und dadurch, dass der Besucher an diesen Produktionen teilhaben kann. Sie hebt sich vor allem dadurch ab, dass das Augenmerk auf den Schriften selbst liegt, auf Strichstärken, Schattenachsen und Laufweiten, auf Grundstrichen und Grauwerten. Die "Tipoteca" ist ein lebendiges Museum der Schriften.

In jeder dieser Schriften verbergen sich nicht nur ästhetische und praktische, sondern auch intellektuelle Entscheidungen. Während etwa in einer "Bodoni", entstanden im späten 18. Jahrhundert, das Schreiben mit der Spitzfeder (genauer: die wechselnde Druckstärke der Feder) fortlebt, sollte die "Helvetica", geschaffen um 1960, ein Ausdruck der technischen Präzision und Rationalität sein, die damals durch Fotosatz und Kopiertechnik möglich wurde (und einer spezifisch schweizerischen Neutralität): schnörkellos, rein, effizient.

Auch der Gebrauch einer Schrift geht in ihre Bedeutung ein: Die "Times New Roman", ursprünglich eine Schrift, mit der möglichst viele Zeichen auf möglichst wenig Raum untergebracht werden konnten, hat die Aura des Ökonomischen verloren und gilt nunmehr als Ausdruck von Verlässlichkeit.

Eine Schrift, von einem Laien betrachtet, besitzt nur eine Anmutung. Erst wer sich gründlicher mit ihr beschäftigt, lernt die Eigenheiten eines jeden Schnittes kennen. Das Museum in Cornuda stellt zu diesem Zweck nicht nur zahllose Schriftstücke und Satzproben aus, in modernen, lichten Räumen. Es lässt die Besucher, die oft in Gruppen kommen, auch mit den Schriften experimentieren. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Über mehr als 2700 verschiedene Schriftarten in Blei verfügt die "Tipoteca", jeweils als komplette Ausstattung. Darüber hinaus gibt es, für die großen Formate, etwa 1300 Schriftsätze in Metall sowie etliche Notenschriften. Sie alle werden in gekennzeichneten Schubladen aufbewahrt, die über hohe Wände hinwegreichen. Zum Vergleich: Zu einer halbwegs tauglichen Druckerei gehörte bis in die Sechziger ein Magazin von mindestens 24 Schriften in verschiedenen Größen, einschließlich der dazugehörigen Kursivschriften und der Ornamente.

Eine gute Schrift, lehrt der Schweizer Grafiker Jost Hochuli, einer der Buchgestalter, mit denen die "Tipoteca" zusammenarbeitet, sei in erster Linie eine Frage der Proportionen. Eine Schrift habe unauffällig zu sein. Sie dürfe die Aufmerksamkeit nicht auf sich selbst lenken. Zwischen den Lettern sei ein angemessener Abstand zu wahren, nicht zu eng und nicht zu weit, sodass einerseits die Buchstaben deutlich erkennbar seien und andererseits die Verbindung zwischen den Lettern nicht verloren gehe. Die Augen müssten sich an einer Zeile festhalten können, weshalb der Abstand zwischen ihnen nicht zu klein sein solle. Aber er dürfe auch nicht zu groß werden, denn dann wirke der Text fragmentiert.

In exakte Maße übersetzen lassen sich solche Regeln nicht. Die Typografie ist eine Wissenschaft der Erfahrung, in der es unzählige Variablen gibt, vom Umgang mit dem Weiß des Papiers bis zu den Verhältnissen zwischen Groß- und Kleinbuchstaben. Je stärker der falsche Schein der Unmittelbarkeit ist, der durch die digitalen Geräte und deren zunehmende Handlichkeit entsteht, desto mehr bedarf dieser Schein einer Korrektur, wie sie produzierende Museen der Typografie liefern. Entstanden ist die "Tipoteca" aus der Druckerei Grafiche Antiga, die ihrerseits aus einer kleinen, im Bleisatz arbeitenden Werkstatt hervorging und heute vor allem für aufwendige Drucke bekannt ist, die sie für Modefirmen und Möbelhersteller produziert.

Als das Unternehmen Mitte der Neunziger zu digitalen Techniken überging, wurde das Museum geschaffen, in einer ehemaligen Kirche und in den früheren Werkswohnungen einer Hanfmühle: als Erinnerung an das, was war, und als Magazin technischer und künstlerischer Möglichkeiten, die, falls überhaupt, im digitalen Druck nur noch unter außerordentlichen Bedingungen zu erreichen sind. Es gibt dort einen Raum, der den Setzmaschinen von Monotype gewidmet ist, komplett mit den Gussapparaten und einem umfassenden Archiv von Schriftarten.

Setzen und Drucken waren ortsgebundene Tätigkeiten mit schwerem Material

Ein zweiter Raum gehört den Modellen von Linotype und Typograf. Es gibt einen großen Saal mit Handpressen und Druckmaschinen. In der Nachbarschaft steht ein Lager, in dem Platten- und Zylinderpressen aufbewahrt und restauriert werden, große Mengen von Gusseisen mithin, die daran erinnern, dass Setzen und Drucken bis vor nicht allzu langer Zeit im hohen Maße ortsgebundene Tätigkeiten waren: Arbeiten mit einem schweren, widerständigen Material. Über das Museum und seine Bestände gibt es seit Kurzem eine aufwendig illustrierte Publikation ("Tipoteca. Una storia italiana", Cornuda 2018). Sie zeigt, was man mit Typografie, Satz und Druck alles anstellen kann.

Mit den Exponaten werden Geschichten erzählt: die Geschichte der Schriftgießerei Nebiolo in Turin zum Beispiel. Gegründet im Jahr 1878 wurde sie schnell zum größten Hersteller von Druckmaschinen in Italien, in enger Bindung sowohl an das aufblühende Zeitungswesen als auch an die erste große Zeit der gedruckten Reklame. Oder die Geschichte der "Bodoni", die, in Abwendung von allen Idealen des Barock und des Rokoko, als die Schrift einer neuen, von Vernunft und Rationalität geprägten Zeit konzipiert wurde, in Anlehnung an die aus dem antiken Rom überlieferten Schriften.

Vor allem aber zeugt die Ausstellung von einer Umgebung - oder will man sagen: Kultur? - in der die Frage, in welcher Form man seine Behauptungen und Gedanken schriftlich niederlegt, noch immer von alltäglicher, aber nicht geringer Bedeutung ist.

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