Süddeutsche Zeitung

Schwabinger Kunstschatz:Verwirrtes Erbe

Litt Cornelius Gurlitt an "paranoidem Wahn"? Ein Gutachter glaubt, dass er beim Abfassen seines Testaments nicht zu "freier Willensbildung" fähig war. Die deutsche Politik will davon nichts wissen.

Von Jörg Häntzschel und Catrin Lorch

Am 9. Januar dieses Jahres bat Cornelius Gurlitt einen Notar zu sich und fasste sein Testament ab. Sein Vermögen, die Wohnung und das Haus in Salzburg, vor allem seine Kunstsammlung vermachte er dem Kunstmuseum Bern.

Er hatte Grund, sein Testament zu machen: Am 15. Dezember war er mit akutem Nierenversagen und Herzschwäche ins Krankenhaus Ludwigsburg eingeliefert worden. Beamte der Münchner Polizei hatten seine Wohnung aufgebrochen und ihn dort hilflos und in lebensbedrohlichem Zustand vorgefunden. Wenige Wochen zuvor hatte das Magazin Focus der Welt die Existenz von Gurlitts Kunstschatz offenbart. Die Werke, hunderte Gemälde und Zeichnungen, darunter Raubkunst aus dem Besitz jüdischer Sammler, wurden auf einen Wert von über einer Milliarde Euro geschätzt. Der Sohn des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt fühlte sich bedroht. Er hielt sich in seiner Wohnung versteckt und hatte sich vom Leben verabschiedet.

Doch Gurlitt war ein schwieriger Patient. Obwohl lebensnotwendige Operationen anstanden, versuchte er, aus dem Krankenhaus zu fliehen. Er beschuldigte das Personal, ihm sein Portemonnaie gestohlen zu haben. Später fand man im Papierhandtuchhalter 7000 Euro und Schlüssel, die er dort versteckt hatte. Kurz vor Weihnachten, am 23. Dezember, wurde er auf einen anonymen Antrag hin unter Betreuung gestellt. Zunächst vorläufig, später, am 28. Februar, endgültig. Am 28. Januar wurde ein Bypass und am 17. Februar ein Herzschrittmacher eingesetzt.

Als sein Testament eröffnet wurde, jubelte man

Doch obwohl Gurlitt bei der Abfassung seines Testaments schwer krank und voller Angst vor den Operationen war, obwohl er unter Betreuung stand, hat bislang niemand ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit des Testaments erhoben.

Ganz im Gegenteil: Als es nach seinem Tod eröffnet wurde, feierte man den Verstorbenen für seinen zwar überraschenden, doch durchaus verantwortungsbewussten letzten Willen. Es passte in das positive Bild, das Gurlitt schon kurz zuvor abgeben hatte. Als er sich nämlich mit dem Freistaat Bayern und dem Bund darauf geeinigt hatte, seine beschlagnahmte Sammlung durch eine Taskforce prüfen zu lassen und Raubkunst an die Nachfahren der jüdischen Vorbesitzer zurückzugeben. Was für ein Wandel! Noch im November hatte er vor laufender Kamera gerufen: "Ich gebe nichts zurück."

Doch ein neues Gutachten, in Auftrag gegeben vom Anwalt der übergangenen gesetzlichen Erben, stellt die Dinge völlig anders dar. Und gerade die Entscheidung, das Berner Museum als Alleinerbe einzusetzen, wirkt mit einem Mal besonders bedenklich. Gurlitt, so das Fazit des 48-seitigen Dokuments, das der SZ vorlag, litt am 9. Januar an einer "leichtgradigen . . . Demenz, einer Schizoiden Persönlichkeitsstörung und einer Wahnhaften Störung".

Der Gutachter, Helmut Hausner, Chefarzt im Zentrum für Psychiatrie in Cham und promovierter Jurist, kommt zu dem Schluss, dass bei Gurlitt die "Freiheit der Willensbildung bei der letztwilligen Verfügung am 09.01.2014 aufgehoben war". Gurlitt sei bei der Abfassung seines Testaments durch "paranoide Wahnideen deformiert, die als eigenständige Erkrankung seit den Sechzigerjahren bestanden hätten". "Wahnideen führen niemals zu einer allgemeinen Geschäfts- oder Testierunfähigkeit, sondern heben die Freiheit der Willensbildung nur für solche Verfügungen auf, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Wahn stehen." Folgt man dem Gutachter, ist das Testament ungültig.

Das Gutachten könnte in den Akten verstauben

Viele versuchen, Testamente mit dem Argument der Testierunfähigkeit zu Fall zu bringen, nur wenige haben Erfolg. Die Betreuung selbst ist kein hinreichender Grund dafür. Dennoch würde ein Gericht, so darf man annehmen, ein Gutachten in diesem Fall sehr ernst nehmen. Doch es wird täglich wahrscheinlicher, dass das Gutachten, das dem Betreuungs- und dem Nachlassgericht sowie dem Nachlasspfleger vorliegt, in den Akten verstaubt. Der Anwalt der Familie hat das Gutachten zwar in Auftrag gegeben. Einen Erbschein beantragen und damit die Gültigkeit des Testaments prüfen zu lassen oder das Testament anfechten, wollen Gurlitts Cousine Uta Werner, 86, und sein Cousin Dietrich Gurlitt, 95, aber nicht.

Sie suchten juristischen Rat für den Fall, dass Bern das Erbe ausschlägt. Erstaunlich ist, dass offenbar schon feststeht, dass auch das Berner Museum keinen Erbschein beantragen wird. Das jedenfalls versichert der Nachlassverwalter den Gurlitt-Anwälten in einem Brief, der der SZ vorliegt. Ohne diesen Erbscheinsantrag gibt es im Fall eines notariell beglaubigten Testaments für das Gericht keine Veranlassung, die Testierfähigkeit des Verstorbenen zu prüfen. Wäre es nicht klüger, bei einem Erbe dieser Größenordnung, und in einem Fall, in dem Transparenz und Glaubwürdigkeit so wichtig sind, dies dennoch zu tun? Schon um ganz sicher zu sein, dass nicht später - in Erbfällen gibt es keine Verjährung - etwa die Kinder der beiden gesetzlichen Erben das Testament anfechten.

Zweifel sind im Fall Gurlitt nicht zugelassen. Die politisch Verantwortlichen tun offenbar alles, um sicherzustellen, dass die Sammlung nach Bern geht. Ingeborg Berggreen-Merkel, die Leiterin der Taskforce, hat sogar den lieben Gott eingeschaltet: "Ich bete täglich, dass Bern annimmt", gestand sie im engen Kreis.

Doch verlassen will sie sich auf ihn nicht. Seit Ende 2013 besuchte die Juristin den alten Mann mehrfach. Wollte sie dessen Verwirrung für ihre politischen Ziele ausnutzen? Sie schickte ihm sogar eine Weihnachtskarte - ein ungeheuerlicher Vorgang. Schließlich war Gurlitt damals noch Beschuldigter in einem Strafverfahren. "Ein Staatsanwalt schickt einem Angeklagten ja auch keine Weihnachtskarten", sagt ein beteiligter Jurist.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters jubelte, Bern sei als Erbe ein "Glücksfall". Dass der Stiftungsrat des Museums erst am 26. November über die Annahme entscheiden will, wird in Grütters' Ministerium seit Wochen als Formalität behandelt. Ihr Sprecher Hagen Philipp Wolf bezeichnete gegenüber der SZ die Frage, was passiere, wenn Bern ablehne, als "absurd". "Dieser Fall wird nicht eintreten." Mit der Familie hat man schon deswegen nie gesprochen.

Die wohlgestreuten Details des zwischen Berlin und Bern ausgehandelten Deals erklären, warum Berlin jede andere Lösung fürchtet: Das Berner Museum ist nicht nur bereit, die der "Entarteten Kunst" zugehörigen Werke als Dauerleihgabe deutschen Museen zur Verfügung zu stellen. Es will Berggreen-Merkel auch die Arbeit ihrer Taskforce fortführen lassen.

Im Grunde begünstigt Gurlitts Testament Deutschland

Das ist für das Schweizer Museum doppelt angenehm. Es muss sich nicht mit den heiklen Teilen der Sammlung auseinandersetzen und für die kostspielige Provenienzforschung nicht einen Franken ausgeben. Noch angenehmer ist es aber für Grütters, Berggreen-Merkel und die deutsche Politik. Die Sammlung ist bei einer seriösen Institution in der neutralen Schweiz aufgehoben. Kurz vor Gurlitts Tod sprachen die Beteiligten von einer Stiftung, die man für Gurlitts Kunst gründen könne. Auch an ein eigenes Museum war gedacht. Gurlitt hat ihnen mit seinem Testament eine für sie noch weit bessere, weil kostengünstigere und international noch nobler wirkende Lösung geschenkt.

Anders als das Betreuungsgutachten, das vor Weihnachten 2013 entstand, greift die neue Untersuchung historisch weit zurück. Es setzt ein mit der fast verzweifelten Bemerkung des Vaters Hildebrand, der seinen 14-jährigen Sohn Cornelius als isolierten Charakter beschreibt, der als Berufswunsch auch noch "Einsiedler" angegeben habe. Anhand von Briefen und Dokumenten beschreibt der Gutachter Helmut Hausner die Entwicklung einer "paranoiden Wahnvorstellung" in den instabilen Verhältnissen der Familie Gurlitt in der Kriegs- und Nachkriegszeit.

Die größte Überraschung: Gurlitt, der als gieriger Hüter eines Nazi-Schatzes dargestellt wurde, fühlte sich selbst zeitlebens von Nazis verfolgt. Er war ein misstrauischer Mann, der bei Fliegeralarm sofort an Kriegsausbruch dachte, Angst vor Telefonüberwachung hatte und seine Briefe in Stanniol wickelte. Auch der Mitarbeiterin des Landratsamts Ludwigsburg, die ihn 2013 im Krankenhaus traf, fielen diese Ängste auf. Gurlitt sei "der Vergangenheit des Dritten Reichs verhaftet" und fürchte, "alle Münchner Nazis seien hinter seiner Sammlung her".

Er glaubte an ein Komplott der Nazis

Sein ganzes Denken sei von einer Bildersammlung beherrscht, die er zusammenzuhalten habe. Gurlitt formulierte seine Angst vor deutschen Behörden und forderte einen "Schweizer Anwalt". Gegenüber dem Psychiater Hermann Ebel, Gutachter im Betreuungsverfahren, erwähnte er ein "Komplott vermeintlich aktiver Vertreter nationalsozialistischen Gedankenguts" in München, wo auch Himmlers Tochter lebe. Gurlitt habe das Schweizer Museum als Erbe eingesetzt, so schließt Hausner, um seine "Kunstsammlung dauerhaft und über seinen eigenen Tod hinaus dem Zugriff der vermeintlichen Nazi-Verfolger zu entziehen".

Will das Museum wirklich von diesen Ängsten profitieren? Deutet der Verzicht auf den Erbschein auf Absprachen hin? Dass Gurlitts Nachlass in die Schweiz geht, scheint Ziel deutscher Politik zu sein. Man will nicht länger das Bild einer Nation abgeben, die lange nach dem Holocaust immer noch mit der Beute dasteht. Das Machtwort von Kanzlerin Merkel, die im Dezember versprach, man werde mit einer Taskforce Ordnung schaffen, bezieht sich nicht nur auf die Raubkunst aus der Sammlung Gurlitt, sondern auch auf eine das Land in der Weltöffentlichkeit belastende Situation. Deswegen wird in Magdeburg ein "Deutsches Zentrum für Kulturgutverluste" eröffnet. Deswegen versuchte der bayerische Justizminister Winfried Bausback, die Verjährungsfrist von 30 Jahren für Raubkunst per Gesetzentwurf abzuschwächen. Deswegen soll der Verbleib von "Entarteter Kunst" neu bewertet werden.

Ein Gutachten, das man nicht zur Kenntnis nimmt, muss man nicht entkräften. Wenn man vorschnell Ziele formuliert, statt auf öffentliche Prozesse zu setzen und Widersprüchliches zu thematisieren, agiert man nicht demokratisch, sondern technokratisch. In diesem November 2014 sieht es so aus, als versäume man die Gelegenheit, das letzte Kapitel Nachkriegszeit in aller Aufrichtigkeit und Ausdauer fertig zu schreiben.

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Quelle:
SZ vom 17.11.2014/cag
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