Schriftstellerin Judith Hermann:Aus dem pulsierenden Berlin ins Reihenhaus am Stadtrand

Judith Hermann

Sie strahlt Ruhe, ja fast etwas Handfestes aus: Judith Hermann hat mit 44 ihren ersten Roman "Aller Liebe Anfang" geschrieben.

(Foto: Juergen Bauer)

Mit Kurzgeschichten über Berlin wurde Judith Hermann berühmt, jetzt hat die Schriftstellerin ihren ersten Roman veröffentlicht. Die Kritiken zu "Aller Liebe Anfang" sind vernichtend. Ein Treffen in Berlin.

Von Verena Mayer

Judith Hermann hat als Treffpunkt das Café "Zur Laube" in Prenzlauer Berg vorgeschlagen. Das Café ist eigentlich ein Biergarten, und es liegt auch nicht direkt in Prenzlauer Berg, sondern in einer Schrebergartensiedlung ziemlich außerhalb. Schnurgerade Wege, gestutzte Hecken, Lauben, Blumenbeete. Stadtrandidylle, man ist sehr weit weg von allem. Hier also verabredet man sich mit der Berliner Schriftstellerin Judith Hermann, einer der bekanntesten deutschen Autorinnen der Gegenwart.

Ihr Erzählband "Sommerhaus, später" wurde 1998 als "Sound einer neuen Generation" gefeiert, der sogenannten Generation Berlin. Der ersten, der nach dem Mauerfall die Hauptstadt offenstand, zum Kunstmachen und zum Feiern, zum Leben und zum Lieben. Judith Hermann galt als Chronistin und weibliche Ikone dieses Lebensgefühls. Eine zugleich verträumte und abgeklärte Frau, wie sie einem von dem berühmten Schwarz-Weiß-Foto im Buchumschlag von "Sommerhaus, später" entgegenblickte. Das schmale Gesicht von einem Pelzkragen umrahmt, im Blick eine rastlose Sehnsucht .

Seither sind sechzehn Jahre vergangen, aber das Gesicht erkennt man auch im Biergarten sofort. Die kantigen Züge, das locker mit Spangen hochgesteckte Haar. Judith Hermann sitzt in Jeans und Bluse an einem Tisch ganz hinten, neben sich eine Handtasche, so groß und vollgepackt, als wolle sie irgendwohin aufbrechen. Sich in einer Kleingartenkolonie zu treffen - ist das Ironie oder ein Kommentar zu irgendetwas? Zu der Debatte, die sich gerade an ihrer Person entzündet hat, ob ihre Bücher oberflächlich seien, sie nichts zu erzählen habe? Nein, sagt Judith Hermann, überhaupt nicht. Das sei einfach ein typischer Ort für ihr Leben gerade. Sie strahlt Ruhe, ja, fast etwas Handfestes aus. Eine Gelassenheit, wie man sie nur in bestimmten Zwischenzeiten hat. Wenn man etwas hinter sich gebracht hat und noch nicht daran denken muss, was die Zukunft bringt.

"Berlin, Berlin gib mir meine Jahre wieder", schrieb ein Freund von ihr auf seine Abschiedskarte

Sie ist jetzt 44 und hat ihren ersten Roman veröffentlicht. Die Literaturszene hat nach den beiden schmalen Erzählbänden, die 2003 und 2009 auf "Sommerhaus, später" folgten, lange darauf gewartet. Der Roman heißt "Aller Liebe Anfang" und handelt von einem Paar Ende dreißig und seiner kleinen Tochter. Vater, Mutter, Kind, er baut Häuser, sie ist Krankenschwester. Die drei leben in einer Siedlung am Stadtrand, wo alles so eintönig ist, dass es sich nicht einmal lohnt, die Nachbarn kennenzulernen. Es passiert nicht viel in dem Buch, außer dass eines Tages ein Mann an der Tür des Einfamilienhauses klingelt, der sich später als Stalker entpuppen wird. Ist es das, was aus der Generation Berlin wurde, aus ihren Sehnsüchten? Reihenhaus, jetzt statt Sommerhaus, später?

Ja, das sei schon so, sagt Judith Hermann. Sie spricht von einem Lebensabschnitt, dem "die Provisorien abhandengekommen" seien, das Gefühl, sich für nichts entscheiden zu müssen, weil einem alles offensteht. Sie selbst lebt schon lange ein festgelegtes Leben, am Rand von Prenzlauer Berg, ganz in der Nähe der Kleingärten. Den angesagten Helmholtzplatz, der in ihren Kurzgeschichten vorkommt, hat sie verlassen. Sie hat Familie, ihr Sohn, der kurz nach ihrem literarischen Durchbruch geboren wurde, ist 14. Judith Hermann erinnert sich noch gut an den Tag, als er zur Schule kam, "an das Aufwachen und das Ausmachen des Weckers und das Bewusstsein, das wird jetzt immer so sein, jeden Tag gleich". Das sei der Punkt gewesen, an dem sie intensiv daran gedacht habe wegzuziehen. Noch einmal irgendwo anzufangen, "Leerstellen zu besetzen", so wie im Berlin der Neunziger.

Judith Hermann spricht schnell und bestimmt, manchmal rutscht ihr ein Berliner "ooch" dazwischen. Sie ist in Neukölln aufgewachsen, das damals ein unaufregender Westbezirk im Schatten der Mauer war. Die Eltern ihrer Freundinnen hatten alle einen Schrebergarten. Sie weiß noch gut, wie dieses Berlin-Gefühl damals war. Mit Anfang 20, wenn man normalerweise zum Studium ins Ausland oder in eine andere Stadt geht, konnte sie bleiben, wo sie war. Als Berlinerin hatte sie ja eine neue Stadt hinzubekommen. Immer, wenn sie am U-Bahnhof Stadtmitte ausstieg, musste sie durch einen Tunnel, der voll war mit Werbetafeln, und darauf hatten Kunststudenten die Namen von Weltstädten geschrieben hatten, New York, Singapur, Bangkok. Und am Ende des Tunnels, nachdem sie an all den Städten vorbei war, wartete die aufregendste Stadt, das neue Berlin.

"Aber in Berlin war er lebendig, in der Kulisse der Trümmer"

Ein Freund von ihr musste damals wegziehen. Auf die Karte für sein Abschiedsfest schrieb er: "Berlin, Berlin, gib mir meine Jahre wieder". Und genau das sei Berlin gewesen, sagt Judith Hermann, der Ort, "sich zu verschwenden, alles in eine Kugel zu packen wie beim Roulette, die ganze Jugend als Einsatz, und am Ende bleibt nichts übrig". Der Freund sei jetzt in München und singe im Chor, es gehe ihm gut. "Aber in Berlin war er lebendig, in der Kulisse der Trümmer und der kaputten Häuser, auf eine morbide Art war er lebendig."

Judith Hermann hält inne und sieht hoch zu den Bäumen. Es ist einer dieser Septembertage, an denen eine ganz bestimmte Traurigkeit in der Luft liegt. Alles ist warm und golden, aber man weiß, dass der Sommer zu Ende ist. Es ist diese Art von Melancholie, die Judith Hermanns Figuren ausmacht, Marie, Sonja, Alice, Nora oder Maja, die solche Dinge denken: "Glück ist immer der Moment davor. Die Sekunde vor dem Moment, in dem ich eigentlich glücklich sein sollte, in dieser Sekunde bin ich glücklich und weiß es nicht." Ihr Roman "Aller Liebe Anfang" ist wieder voll von solchen Sätzen, von nebensächlichen Details, die in ihrer Gesamtheit etwas schwebend Atmosphärisches ergeben, wie es für all ihre Texte typisch ist.

Doch die meisten Besprechungen sind diesmal schlecht, ja, einige Kritiker seien regelrecht "außer sich" gewesen, sagt Judith Hermann. Der Autorin, die einst als Stimme einer neuen Zeit wahrgenommen und mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, hält man jetzt vor, sie habe nichts zu sagen. Ein Literaturkritiker der Zeit schrieb auf Twitter, er müsse "kein Buch lesen, in dem Stella und Jason mit ihrer Tochter Ava am Stadtrand wohnen". Wobei man sich fragt, wer hier gemeint ist. Judith Hermanns Roman oder nicht doch eher Judith Hermanns Generation, die ihre besten Jahre hinter sich hat und vielleicht einfach langweilig geworden ist?

Judith Hermann erzählt, sie habe mal mit Florian Illies zusammengesessen, dem Autor von "Generation Golf". Sie hätten sich gefragt, was machen wir bloß, wenn Berlin, unser Leben nicht mehr aufregend ist, wenn alles fertig, festgelegt ist? Dann gehen wir nach Wien, sagte Illies. Das nächste große Ding. Natürlich ist sie nicht nach Wien gegangen, auch sonst nirgendwohin, warum auch? Ihre Berlin-Erfahrungen seien an ein bestimmtes Alter gekoppelt, an das Jungsein, "wer weiß, wie ich heute darauf reagieren würde, wenn in einer Stadt eine Mauer fällt".

Jetzt, wo ihr Sohn an der Oberschule sei, denke sie lieber in den nächsten Lebensabschnitt hinein, "wo ich in fünf Jahren bin, wenn er Abitur macht, da könnte ich ja noch einmal irgendwohin". Es klingt auf eine Art sehnsüchtig, bei der man nicht sagen kann, ob nicht auch Bitterkeit und Selbstironie mitschwingen. Ist es schwierig, in Berlin älter zu werden, in der Stadt der Clubs und Partys, wo einem ständig der Verlust der Jugend vor Augen geführt wird? Ja, sie fühle sich wohler in Gegenden, in denen es leerer ist. Auf dem Land, "ohne Berlin-Klientel".

Die trifft sich am nächsten Abend im Haus der Berliner Festspiele, wo Judith Hermann aus ihrem Roman liest. Der Saal ist brechend voll, viele junge Leute mit Stoffbeuteln, ältere Damen, das typische Kulturbetriebspublikum. Judith Hermann sitzt an einem Tisch auf der großen Bühne, ihre vollgepackte Handtasche hat sie wieder mitgebracht. Als wolle sie auch in dieser Situation ihre Sachen dabeihaben, um irgendwohin aufbrechen zu können. Auf eine Leinwand im Hintergrund ist ein blauer Himmel mit ein paar Wolken projiziert. Blau, das ist die Farbe, die Judith Hermann nannte, als sie ein Mann aus Mexiko mal fragte, welche Farben ihre Bücher hätten. "Alle blau, die Farbe der Melancholie". Sie liest die ersten Szenen aus ihrem Roman, professionell, mit heller Stimme, nicht mehr so gehaucht wie bei den Lesungen früher. Als sie den Mund ans Mikro drückte, und man den Atem hören konnte und die Atemlosigkeit, die so gut zum Leben in Berlin passte.

Judith Hermanns Roman fängt das Leben wie in einer Kapsel ein

Jetzt ist eher ein langer Atem gefragt, in Judith Hermanns Roman ist das Leben wie "in einer Kapsel eingeschlossen, nicht mehr zu erreichen". Stella, die Hauptfigur, lebte einst in einer aufregenden Stadt, jetzt sitzt sie mit ihrem Mann im geschmackvoll eingerichteten Einfamilienhaus. Sie bringt das Kind zur Kita, geht zur Arbeit, jeden Tag gleich. "Wiedergänger" ihrer Figuren aus "Sommerhaus, später" seien das, sagt Judith Hermann, der flirrenden jungen Leute, denen einmal alles offen stand. Sie fühle sich ihnen genauso nahe, und jetzt sieht sie ihnen eben beim Älterwerden zu. Dabei, wie ihnen die Möglichkeiten abhandenkommen, die Sehnsüchte und die Lebenskraft. Und erweist sich damit erst recht als ideale Chronistin ihrer Zeit. Wenn man wissen will, mit welcher Ambivalenz eine Generation lebt, die endlich angekommen ist und doch am liebsten woanders wäre, muss man diesen Roman lesen.

Zurück in die Laubenkolonie. Die Vögel zwitschern, in den Gärten blühen die Dahlien, die Vorboten des Herbstes. Was sagt sie zu den Reaktionen auf ihren Roman? Sicher, sie hätte sich "das universelle Ja wie beim ersten Buch" gewünscht. Aber sie fühle sich jetzt freier als früher, werde nicht so lange brauchen bis zum nächsten Buch. Auch wenn sie immer langsamer schreibe, je älter sie werde, fünf Jahre saß sie an den 224 Seiten. Das sei ihrer Zögerlichkeit geschuldet, aber auch den vielen Möglichkeiten, die jeder Stoff, jede Seite, ja, jeder Satz biete. Das immerhin ist das Gute am Alter. Während sich im Leben Möglichkeiten verschließen, öffnen sich in der Kunst immer neue.

Judith Hermann muss los. Sie holt ihr Fahrrad und radelt über die schnurgeraden Wege davon. Würde sie jetzt nicht nach Hause, sondern weiterfahren, die großen Verkehrsschneisen der Stadt entlang, dann würde sie irgendwann in Neukölln landen, das heute rau und aufregend ist, mit provisorischen Cafés oder Ateliers in den Hinterhöfen, ein einziges Versprechen. Dort, wo ihr Sohn hinwollte, als sie mit ihm einige Wochen lang in den Ferien an der Nordsee war. Als sie ihn fragte, was er denn so sehr an Berlin vermisse, sagte er: die Menschen. "Und da dämmerte es mir, dass ihm das alles genauso vorkommt wie mir damals. Ewig berauschend."

Und das ist auch das Großartige an dieser Stadt. Während man noch darüber nachdenkt, dass die Generation Berlin jetzt in einer Kleingartenkolonie unterwegs ist, wächst irgendwo schon die nächste heran.

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