Imre Kertész war ein zurückhaltender, ein zutiefst freundlicher Mensch. Das hat sich auch mit dem Nobelpreis, den er 2002 erhielt, nicht geändert. In seiner Bescheidenheit war er so mitreißend, dass viele, die mit ihm zu tun bekamen, sich unwillkürlich wie grobschlächtige Trampel fühlten.
Vom Leben erwartete der Ungar, der als Teenager ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde und dann im KZ Buchenwald fast zugrunde ging, nicht besonders viel.
Von der Literatur um so mehr. An dem "Roman eines Schicksallosen", mit dem er weltberühmt wurde, hat er dreizehn Jahre lang geschrieben. Er brauchte lange, um dem Zivilisationsbruch der Shoah in den eigenen Augen gerecht zu werden.
In Ungarn erschien das Buch 1975, in Deutschland 1990. Der Protagonist, ein Junge, der in ein KZ verschleppt wird, schildert die Grausamkeit all dessen, was er sieht, als "natürliches" Ergebnis der Denkweise der NS-Schlächter: Ein ums andere Mal konkludiert er, dass deren Handeln sich naturgemäß aus ihren perversen Ansichten ergibt.
Diese Perspektive überrumpelte und erschütterte die Leser. Hätte Kertész es nicht selbst erzählt, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er die Diktion des Jungen, der im KZ alles "natürlich" nennen lernt, was ihm angetan wird, von seiner ungeliebten Stiefmutter abgeschaut hat, in deren Sprache Kertész die "Apotheose des Kleinbürgertums" fand.
Geschichten, in denen sich die abendländische Philosophie spiegelt
Jahrelang hat Imre Kertész sich als Autor von "Lustspielen", wie er sie nannte, und als Übersetzer schwierigster Autoren, wie zum Beispiel Heidegger, durchgeschlagen. Er verdiente sehr wenig und lebte mit seiner ersten Frau in einer winzig kleinen Wohnung.
Umso ausgedehnter war der literarische Palast, in dem er sich umtrieb. Seine Bücher - "Roman eines Schicksallosen", "Fiasko", "Liquidation" und viele andere - kann man als Geschichten lesen. Wer indes hochgebildet ist, so gebildet wie Kertész, findet darin die abendländische Philosophie gespiegelt, beziehungsweise das, was davon nach der Shoah noch belastbar war.
Er legte wert darauf, nicht seine eigenen Erfahrungen zu schildern. Im Gespräch mit der SZ hat er den Unterschied zwischen dem Leben und dem Erzählten einmal so erklärt: '"Literatur ist Literatur. Das habe ich sehr schnell eingesehen, als ich mit dem 'Roman eines Schicksallosen' angefangen habe. In der Literatur regiert die Sprache, und die Sprache hat Gesetze, und diese Gesetze darf man nicht verletzen. Denn dann geht man aus der Literatur. Eine Romanfigur ist in der Sprache, ist kein wirklicher Mensch. Ich kann als Romanfigur nur so handeln, wie die Gesetze der Sprache es erlauben. Das geht: ironisch. Aber das ist ein Trick. Der Roman ist ein Trick, kein Leben."'
Glücklich mit Magda
Was das Leben angeht, genauer gesagt die Frage, wie man ein gutes Leben führt, hat Kertész einmal Mut gespendet. Er sagte: "Das Leben ist ein Kunstwerk. Man muss es aufbauen."
Nach dem Tod seiner ersten Frau fand er Magda, eine Ungarin, die viele Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht hatte und dann mit ihm teils in Budapest, teils in Berlin lebte. Über sie schrieb er: "Ein Paar blauer Augen begleitet mein Leben." Er war gücklich mit ihr. Nach langer Krankheit ist Imre Kertész am Donnerstag im Alter von 86 Jahren in Budapest gestorben.