Schriftsteller:"Das Grauen muss man nicht betonen"

Ralf Rothmann

Erzähler der Nahsicht: Ralf Rothmann.

(Foto: Franka Bruns/Suhrkamp Verlag)

Ralf Rothmann erzählt in seinem neuen Roman "Im Frühling sterben" von den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges und setzt sich darin auch mit der eigenen Familiengeschichte auseinander

Interview von Yvonne Poppek

Es ist die Geschichte zweier junger Melker, die im Februar 1945 noch zwangsrekrutiert werden und zugleich ist es eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg: Ralf Rothmann hat einen bewegenden Roman über die tiefen Erschütterungen eines Krieges geschrieben, die noch heute ihre Wirkungen zeitigen. Am 20. Juni erscheint "Im Frühling sterben" im Suhrkamp-Verlag. Bereits an diesem Montag stellt der 62-jährige, mehrmals ausgezeichnete Autor in München sein Buch bei einer Lesung vor.

SZ: Sie haben Ihrem Buch den Auszug aus Ezechiel vorangestellt: "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden." Glauben Sie, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der die nachfolgenden Generationen noch immer die Traumata des Zweiten Weltkrieges zu spüren bekommen?

Ralf Rothmann: Ich glaube, die Traumata des Zweiten Weltkrieges sind immer in allen präsent. Wie jeder Krieg wirkt er weiter in Kindern und Kindeskindern, das ist die Weisheit des Bibelzitates. Die Wunden mögen sich geschlossen haben, aber nicht selten schmerzen die Narben mehr als die Wunden. Sich das zu verdeutlichen, kann schon helfen, die eigenen Ängste und Bedrückungen zu verstehen. Wir Nachfahren haben keine Schuld an dem vergangenen Krieg, aber wir haben die Verantwortung, dass so etwas nicht wieder geschieht. Schuld kann man nicht vererben, Verantwortung schon.

Später im Roman greifen Sie diesen Gedanken vom "Gedächtnis der Zellen" explizit auf. Wie äußert sich dieses Gedächtnis in Ihrem Leben?

Wie Fiete im Roman träume ich immer wieder, dass ich im Krieg erschossen werde, seit Jahrzehnten. Diese Träume waren und sind mir immer ein Rätsel gewesen, denn ich lebe seit über 60 Jahren im Frieden und habe nie in die Mündung einer Pistole geblickt. Doch dann hörte und las ich etwas von der transgenerationellen Weitergabe von Traumata. Plötzlich wurde die Geschichte meiner Eltern für mich interessant, und ich begann mich durch ihr Schweigen, ihr tiefes Verschweigen, zu arbeiten.

Ihren Büchern wird nachgesagt, dass sie sich aus Ihrer eigenen Erfahrung speisen. Die Zeit, aus der Sie diesmal erzählen, gehört indes nicht zu ihren direkten Erfahrungen. Wo haben Sie sich auf Spurensuche begeben?

Die erste Spur war eher eine Art Vakuum, das einem Gespräch mit meinem Vater folgte. Ich war vielleicht acht Jahre alt und fragte ihn, ob er im Krieg, wo er Fahrer in einer Versorgungseinheit war, auch geschossen habe. Sicher, war die Antwort, alle hätten geschossen. Und als ich sensationsgierig weiter fragte, ob er denn getroffen habe, ob da Menschen geschrien und geblutet hätten und umgefallen seien wie in meinen Indianerbüchern, verstummte er kurz bis in die Herzspitze hinein, sah meine Mutter an und fragte leise: "Was soll ich denn jetzt sagen?" Und die schickte mich kurzerhand in mein Zimmer, Schulaufgaben machen. - Dieses Vakuum, das da zurückblieb, ist vielleicht das geheime Zentrum meiner Arbeit an diesem Roman gewesen.

Der Ton Ihres Roman ist unaufgeregt gehalten, das Grauen konstatierend, aber nicht kommentierend. Andererseits sind viele Stellen poetisch aufgeladen. War es nur so möglich, vom Krieg zu erzählen?

Das Grauen muss man nicht betonen. Meine Vorstellungen vom Erzählen gehen dahin, dass ich nicht sage, wie schrecklich oder schön oder herzerhebend etwas ist. Das wäre ja nur eine Meinungsäußerung unter vielen. Die Umstände ruhig und genau und so empathisch zu schildern, dass sich dem Lesenden die Nackenhaare sträuben und er denkt oder fühlt "Mein Gott, wie schrecklich", das wäre Literatur. Die poetisch aufgeladenen Stellen sind vielleicht ein Abglanz des Friedens, der möglich sein könnte jenseits der Verblendungen in dieser Zeit.

Mit "Im Frühling sterben" gehen Sie in Ihrem literarischen Schaffen am weitesten in die Vergangenheit zurück. Ist dieses Thema lange in Ihnen gereift?

Ja, ein halbes Leben lang. Ich wollte schon einmal ein Buch über meinen Vater schreiben, weil mich sein Schicksal seit jeher berührte: Mit 18 an Körper und Seele verwundet aus dem Krieg heimgekehrt, dann im Wirtschaftswunder als Melker und Kohlenhauer noch einmal verpulvert, mit 55 endgültig zerarbeitet und verrentet, mit 60 schwerer Alkoholiker und mit 61 tot. Eine verlorene Generation des letzten Jahrhunderts, eine von vielen. Aber dann wurde es, ihrer dominanten Natur gemäß, eher ein Buch über meine Mutter. Und so habe ich 15 Jahre später, mit diesem Roman, noch einmal angesetzt.

Wie ist der Weg der nachfolgenden Generationen, sich mit der Familiengeschichte im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen?

Das kann nur die nachfolgende Generation beantworten, denke ich. Sich klarzumachen, dass kein Krieg jemals wirklich zu Ende ist, kann da schon Anstoß sein. Die Gefühlskälte meiner Mutter, die möglicherweise in der Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten ihre Ursache hat, die stumme Traurigkeit meines Vaters, die auf unvorstellbare Erlebnisse an der Front zurückgehen mochte, das alles hat meine Kindheit überschattet und mein Verhalten geprägt. Mit diesem Hintergrund wirke ich auf andere und kann nur hoffen, dass das, dem Wesen der Poesie entsprechend, eine friedensstiftende Wirkung ist.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben, Lesung, Montag, 15. Juni, 19.30 Uhr, Seidlvilla, Nikolaiplatz 1b

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