Schreckensforschung:Flurschaden

Korridore sind ein altes Topos des Grusel-Genres, vom Schauerroman "The Castle of Otranto" bis hin zu "The Shining" und "Twin Peaks". Warum eigentlich? Der Londoner Wissenschaftler Roger Luckhurst hat eine Erklärung.

Von Alexander Menden

Man hat in diesen Tagen des Bombenterrors, der Brexitsorgen und der Wahlkampf-Schlammschlachten in Großbritannien kaum noch Zeit, sich auf die fiktionalen Angstmacher zu besinnen, für die England eigentlich berühmt ist. Dankenswerterweise hatte Roger Luckhurst, Professor für Englische Literatur am Birkbeck College, jetzt Gelegenheit, einen der klassischen Schauplätze des Gothic Horror einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Anlässlich der Verleihung der Roy-Porter-Medaille hielt er in der Londoner Wellcome Collection einen Vortrag über "Corridor Dread" - die Furcht vor Fluren.

Seien es die finsteren Gänge von Herrenhäusern oder Internaten, wie in den Geistergeschichten von M.R. James, die Albtraum-Gänge in David Lynchs "Twin Peaks" mit ihren roten Vorhängen, oder die labyrinthartigen Korridore des Overlook Hotels in Stephen Kings "Shining" - der Korridor ist ein Nexus der Angst vor all den Schrecken, die jenseits seiner Türen und in den dahinterliegenden, unerforschten Räumen lauern.

Luckhurst schlug einen Bogen von Horace Walpoles Schauerroman "The Castle of Otranto" über Stanley Kubricks "The Shining"-Verfilmung bis zu kaum kategorisierbaren Erzählungen wie Victor LaValles "The Devil in Silver", in dem ein bisonköpfiger Minotaurus die Flure einer New Yorker Nervenheilanstalt unsicher macht. Auf diese Furcht vor solchen Institutionen führte Luckhurst die Rolle des Flurs als Ort sozialen Traumas denn auch in erster Linie zurück. Die psychologische Topografie einer konkreten Architektur, die, anders als atmosphärisch dichte Räume wie Keller oder Dachböden, gerade durch ihre Funktion als Übergangsraum eine ideale Projektionsfläche für unbestimmte Ängste ist, lässt sich nirgends so gut untersuchen wie in den unendlichen Gängen der angloamerikanischen Irrenhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts.

Deren Vorbild war Londons St. Luke's Hospital mit seinen langen Gängen, von denen die Zellen der Patienten abgingen, und die Charles Dickens als extrem bedrückenden Ort beschrieb. Dabei war der Korridor einmal Teil fortschrittlicher Behandlungsmethoden: Je verrückter ein Insasse eingestuft wurde, desto näher lag seine Zelle an den Räumen der Ärzte. In Amerika resultierten daraus gigantische Gebäude mit kilometerlangen, öden Fluren. Betrachtet man Bilder dieser heute großenteils abgerissenen Strukturen, braucht es nur wenig Fantasie, um sie mit den Monstern von Survival-Videospielen wie "Resident Evil" zu füllen. So wird der Korridor ein Übergang zu etwas, das sich uns nie ganz erschließen will, ein Symbol des überforderten Fassungsvermögens des menschlichen Geistes.

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