Schottische Literatur:Nachtarbeit

A. L. Kennedy entführt die Schlange des kleinen Prinzen. Den kleinen Prinzen lässt sie in ihrer Erzählung "Leises Schlängeln" links liegen und ersetzt ihn durch das Mädchen Mary. Aber immer noch ist die Schlange sehr mächtig.

Von Lothar Müller

Lange war der Karl-Rauch-Verlag der Verlag des kleinen Prinzen in Deutschland. 2014 aber, siebzig Jahre nach dem Tod des Autors Antoine de Saint-Exupéry, wurden die Rechte am kleinen Prinzen frei, und er wurde plötzlich landauf landab neu übersetzt, unter anderem von Hans Magnus Enzensberger und Peter Sloterdijk. Der Karl- Rauch-Verlag ist immer noch der Verlag des kleinen Prinzen, aber seit einigen Jahren bringt er vermehrt deutsche und internationale Gegenwartsliteratur auf den Markt. Jetzt hat die schottische Autorin A. L. Kennedy dort ihre Erzählung "Leises Schlängeln" publiziert. Sie entführt darin auf sehr charmante Weise dem kleinen Prinzen eine seiner wichtigsten Mitfiguren, die Schlange.

Sie wickelt sich bekanntlich wie ein goldenes Armband um den Knöchel des kleinen Prinzen, ist stärker als der Finger eines Königs und dies vor allem, weil sie mit dem Tod im Bund ist. All das ist die Schlange auch bei A. L. Kennedy, und auf den ersten Blick scheint es, als schmiege ihre Erzählung sich auch im Ton an das Buch Saint-Exupérys an. Aber nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick ist alles ganz anders. Erstens, weil hier der kleine Prinz als Hauptfigur durch das Mädchen Mary ersetzt ist. Zweitens, weil in der Sprache dieses Mädchens und seiner Autorin Sätze wie "Man sieht nur mit dem Herzen gut" eher nicht vorgesehen sind. Und drittens, weil das Mädchen nicht Mädchen bleibt, sondern älter wird und eine ganze Biografie durchlebt.

Heine-Preisträgerin A. L. Kennedy

Die schottische Autorin Alison Louise Kennedy wurde im Dezember mit dem Heine-Preis 2016 der Stadt Düsseldorf als "eine große Literatin und eine streitbare Europäerin" ausgezeichnet.

(Foto: Henning Kaiser/dpa)

Diese post-paradiesische Schlange kann sehr, sehr wütend werden

Mary erlebt eine Liebesgeschichte mit Paul, der wie sie in der Schule ein Außenseiter ist, verliert ihre Eltern und hat am Ende weiße Haare. Die Schlange, die über sie wacht, ist ein Zwitterwesen, ihre weibliche Aura kann sie nicht ausschlagen, aber Mary gibt ihr einen Jungennamen und macht sie zu ihrem Freund. Außerdem kann diese post-paradiesische Schlange wütend werden, sehr wütend, vor allem, wenn sie auf Milliardäre trifft, die sich rühmen, ihre Leute zu feuern, und auf Kriegsherren, die sich Namen wie "der große Freund des Volkes" geben. Kurz, die Welt, in die A. L. Kennedy die Schlange des kleinen Prinzen entführt hat, ist kein friedlicher Ort. Menschen verlassen ihre Heimat und gehen auf Wanderschaft, und andere rivalisieren mit der Schlange, die Nacht für Nacht im Dienst des Todes unterwegs ist: "Wenn die Nacht sich über die Krümmung der Erde wälzte, über das Land, das sie gerade besuchte, konnte die Schlange sich gelegentlich ausruhen, zusammenrollen und die schlaue Zunge in den Wind stecken, um festzustellen, wie viele, viele Male die Menschen eines jeden verdunkelten Landes an ihrer Stelle ihre Arbeit taten."

Es gibt zu dieser Erzählung ein englisches Manuskript, aber keine Originalausgabe. Es gibt bisher nur die deutsche Übersetzung. Sie stammt von Ingo Herzke, der schon A. L. Kennedys Roman "Gleißendes Glück" (2000) übertragen hat und hier den Ton eines humorgetränkten modernen Märchens exakt trifft.

A. L. Kennedy: Leises Schlängeln. Erzählung. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Mit Illustrationen von David Böhm. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2016. 112 Seiten, 18 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: