Süddeutsche Zeitung

"Schmetterlinge im Ohr" im Kino:Na hör mal

Pascal Elbé ist schwerhörig in seiner subtilen Komödie "Schmetterlinge im Ohr". Die Verwirrung kennt er aus dem eigenen Leben.

Von Fritz Göttler

Der Wecker ist an allem schuld, sein beharrliches, lautes Schnarren. Antoine hat gar nichts gehört, wohl aber Claire, in der Wohnung drunter. Deshalb steht sie nun an Antoines Tür und blafft ihn entnervt an. Antoine, in seiner Hilflosigkeit, blafft böse zurück. Er hört sehr schlecht, und will das g'schamig - weil er doch noch nicht so alt und sehr dynamisch ist - einfach nicht zugeben, den anderen gegenüber und sich selbst. Lieber produziert er, um den Defekt zu kaschieren, jede Menge Missverständnisse und Fehlleistungen - das hat sich in zahlreichen Komödien bereits bestens bewährt.

Claire wohnt, nachdem ihr Mann gestorben ist, bei ihrer Schwester und deren Mann, sie hat eine Tochter, die Nachtangst hat und nach dem Tod des Vaters kein Wort mehr reden mag. Der Mann, der nicht hört, und das stumme Kind, das ist eine stille, bewegende Paarung. Das Mädchen malt, fürs Erste, Antoine ein Bild, einen Elefanten ohne Ohren.

Pascal Elbé weiß, wie peinvoll und peinlich Schwerhörigkeit sein kann, aus eigener Erfahrung. Er spielt selber in seinem dritten Film Antoine, Claire wird von Sandrine Kiberlain gespielt. Antoine ist Lehrer für Geschichte, da kommt's wohl auf Genauigkeit an. Seine Schüler und Schülerinnen reagieren, wenn er die Schulstunden verwechselt oder sie den Eindruck haben, gegen eine Wand zu reden, mit Kopfschütteln, mit Unwillen, mit Aufruhr. Seine Kollegen sehen seine verschlossene Zurückhaltung als Gleichgültigkeit, eine meint rassistische Herablassung darin zu spüren und bricht in Tränen aus. Irgendwann muss Antoine halt zum Arzt, er kriegt eine Hörhilfe und gewöhnt sich, eher langsam, daran sie auch zu benutzen.

Sarkasmus wird zur Bedingung von Wahrheit

Die bürgerliche Komödie ist ein starkes Genre im französischen Kino, sie ist clever konstruiert, aber darüber hinaus immer ein Gesellschaftsstück. In "Schmetterlinge im Ohr" geht es um Sehnsucht und Trauer, Verlust und Begehren, Impulse und Demenz, das Eingeständnis eigener Vergänglichkeit und Einsamkeit. Es ist nicht schlecht, allein zu sein, meint Antoine - man lernt was über sich. Pascal Elbé macht sich daran, der bekannten Formel gemäß, den Widerspruch seiner Zeit auszuleben, der den Sarkasmus zur Bedingung von Wahrheit machen kann.

So zeichnet die französische Komödie mit lustvoller Genauigkeit das Bild eines Bürgertums, das in diesem Land nahezu zeitlos zu sein scheint, seinen Lebens- und Wohnstil, seine Manierismen, seine intellektuelle wie emotionale Kultur: den Schwung von La Traviata zum ersten Mal hören, das muss man sich mal vorstellen, oder das Meer, seine Wellen und Möwen... Das Genre hat eine unerhörte Leichtigkeit und Dichte, dank des Lehrbuchs, auf das es bauen kann, den Mythen des Alltags, in denen Roland Barthes in den Fünfzigern die französische Gesellschaft analysierte. Das Kino, die Gesellschaft in Frankreich haben das Buch voll absorbiert. Als Antoine und Claire dann doch einmal miteinander schlafen, will die Schwester am Tag darauf wissen, wie oft sie es denn nun getrieben hätten: einmal, zweimal, mehr ...? Salope entfährt es ihr, als Claire antwortet, du Schlampe. Aus dem Nebenzimmer, wo ihr Mann alles mithören kann, kommt ein blitzschnelles: Masel tov!

Zwischen der Hölle und der Stille wählen muss der schwerhörige Antoine, radikal, wie einst Belmondo zwischen dem Leiden und dem Nichts, in Godards "À bout de souffle". Auch für den Wecker findet sich eine Lösung, eine Apparatur, die nicht durch Scharren oder Rasseln weckt, sondern durch eine erschreckende Kaskade von Blitzen: täglich aufwachen mit SEK.

On est fait pour s'entendre, 2021 - Regie, Buch: Pascal Elbé. Kamera: Rémy Chevrin. Schnitt: Jennifer Augé. Musik: Christophe Minck. Mit: Pascal Elbé, Sandrine Kiberlain, Emmanuelle Devos, Valérie Donzelli, François Berléand. Neue Visionen, 94 Minuten. Kinostart: 16. 06. 2022.

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