Süddeutsche Zeitung

Dokumentation zum 10. Todestag:Liebevolles Brachialtheater

In Bettina Böhlers Dokumentation "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" spricht vor allem der Künstler selbst. Der Zuschauer kann sich in die Begegnung zu stürzen - und entscheiden, wie er zu Schlingensief eigentlich steht.

Von Juliane Liebert

In "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" lässt Bettina Böhler nahezu ausschließlich Schlingensief selbst sprechen. Für gewöhnlich bestehen filmische Porträts aus ganzen Heerscharen von Freunden, Verwandten, Bekannten und Weggefährten, die gut ausgeleuchtet erklären, wie der Betreffende denn nun so war. (Genial nämlich.) Was für Erinnerungen sie an ihn haben. (Gute.) Wie man den Biografierten einordnen würde. (Als außerordentlich wichtig! Denn umso wichtiger der Biografierte, desto wichtiger man selbst!)

Dass hier Christoph Schlingensief über Christoph Schlingensief spricht, gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, sich selbst in die Erfahrung der Begegnung zu stürzen, selbst zu entscheiden, wie man den Mann, die Kunst findet; kurzum: wie man selbst zu der ganzen Angelegenheit steht.

Das ist schön und spannend, manchmal anstrengend und am Ende oft traurig. Als Schlingensief sich in einer Szene im Krankenhaus filmt, klingt er wie ein Kind. "Professor K. war gerade hier, ich hab's super gemacht, Werte sind super, Sauerstoff super... und ich hätte richtig gut mitgemacht, er war ganz begeistert... also eigentlich toll. (...) Ich danke Gott dafür, dass ich da dabei sein darf. Und ich will leben. Und das werden wir schon hinkriegen."

Eine eigentümliche Mischung aus Souveränität und innerer Hochspannung

Seine nur durch Willenskraft zurückgehaltene Verzweiflung - überhaupt seine ständige geistige Präsenz - ist berührend, selbst wenn er an anderen Stellen gelegentlich pseudotiefsinnigen Nonsens redet: Er strahlt immer eine eigentümliche Mischung aus Souveränität und innerer Hochspannung an der Grenze zum Nervenzusammenbruch aus.

Sein Erweckungserlebnis, so wie es der Film zeigt, war, als sein Vater versehentlich bei einem Urlaubsvideo den Film doppelt belichtete. "Nachdem man dann 14 Tage auf die Kassette gewartet hat, kam die entwickelt aus dem Kodakwerk zurück. Da wurde der Projektor aufgebaut, es wurde abgedunkelt, dann ging diese Lampe an, der Staub verbrannte, dann ging die automatische Einfädelung los..." Er erzählt das in einem Ton, als berichte er nicht von einem Urlaubsfilm, sondern sei Kommentator beim spannendsten Fußballspiel aller Zeiten: " ...und dann kam das Bild, und das war sensationell! Meine Mutter und ich lagen am Strand irgendwo, und da liefen uns plötzlich Leute übern Bauch. Und ich denke: Wow, was ist das?"

Eine Initiation in die Macht des Künstlichen. Was im Film mit dem doppelt belichteten Urlaubsfilm illustriert wird: Schlingensief besaß eine enorme Sensibilität für Brüche in der Wirklichkeit und mediale Verfremdungseffekte. Aus denen er gerade keinen totalen Relativismus ableitete, sondern eine - immer ein wenig diffus bleibende - Sehnsucht, zur Eigentlichkeit, zur unvermittelten Wirklichkeit durchzudringen. Und zwar mit den Mitteln der Kunst.

Man kann sich natürlich fragen, ob das nicht eigentlich Kitsch ist - dieser Anspruch, mit Hau-drauf-Performance die große Klarheit zu erreichen. Dieser Großanspruch spricht aus jeder seiner Zeilen. Schlingensief hat ja sogar begonnen, ein Operndorf in Burkina Faso zu bauen. Man kann das als reflexiv auslegen oder, vielleicht treffender, als Exorzismus von nationalen Traumata. Als befreiend für alle eingebundenen Menschen, weil sie in dem Kunst-Set-up die Möglichkeit bekommen, aus den gesellschaftlichen Konzepten, in die sie gezwungen sind, auszusteigen. Weshalb auch das Operndorf gerade keine kolonialistische Idee ist, sondern eine besonders feinsinnig entkolonialisierende.

Was Schlingensief wohl heute für Aktionen machen würde?

Man könnte aus Schlingensiefs Werk genauso das Gegenteil herauslesen: dass er auf Drastik setzt, um alle, die sich an übliche gesellschaftliche Regeln halten und diese als schützend empfinden, aus der Reserve zu locken. Was er wohl heute für Aktionen machen würde? "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" wurde von seiner Witwe, der Bühnenbildnerin Aino Laberenz, anlässlich seines zehnten Todestages in Auftrag gegeben. Um im Rückblick fällt einem auch auf, wie krass sich die Welt, aber auch speziell Deutschland, seitdem verändert hat.

Die Feinheiten der derzeitig in seinem Milieu dominanten Identitätspolitik - wie würde er damit umgehen? Ist sein robuster Umgang mit Nazi-Symbolik angesichts der von AfD, NSU und im Internet radikalisierten rechten Amokschützen umso treffender - oder frivol?

Das Postmoderne, Hyperreflexive, sein liebevolles Brachialtheater braucht es zur Rechtfertigung - und sei es als Negativvorstellung eines von den Geistern des Faschismus trüben Spiegelkabinetts, aus dem es auszubrechen gilt. Könnte ein solches Denken angesichts von Donald Trumps Horrorshow und Putins Parallelwelt heute noch als analytisch gelten? Heute haben wir es mit sozialen Friktionen auf vielen Ebenen zu tun, die Nervosität ist hoch, das Angstlevel auch. Wie Schlingensief wohl darauf reagieren würde: Vielleicht leise? Mit einer völlig neuen Form?

In einer der schönsten Szenen aus der bekannten Arte-Doku "Durch die Nacht mit... Schlingensief und Friedman", (die es nicht in diesen Film geschafft hat) sitzen die beiden mit Hannelore Elsner an einem Tisch. Sie sagt, sie will ein Lied singen. Friedman ist ungeduldig. Der dritte Gast sagt Friedman, er solle ihr doch ihr Tempo lassen. Schließlich singt sie "Warnung" von Hermann Löns und Fritz Jöde: "Du hast gesagt, du willst nicht lieben / willst dich mit keinem Mann betrüben / Noch bist du jung / noch blüht der Mai / bald ist die schöne Zeit vorbei." Und weiter: "Der Birnbaum blüht nicht nur zur Freude / er blüht nicht nur zur Augenweide / Bald kommt die Zeit, bald kommt die Zeit, da ist er voller Süßigkeit." Die lauten Männer lauschen ganz still, und Schlingensief lächelt bezaubert.

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Quelle:
SZ vom 21.08.2020/tmh
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