Süddeutsche Zeitung

Schillers Schädel:Der Geist ist groß, der Sarg ist leer

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Laut DNS-Befund ist der Schiller-Schädel der Weimarer Fürstengruft nun definitiv nicht der des Dichters. Gab es einen Grabräuber? Und was bedeutet das für die Weltliteratur?

Burkhard Müller

Nun also steht es fest: Der Schädel, der lang in jenem mit "Schiller" beschrifteten Sarkophag der Weimarer Fürstengruft gelegen hat, ist nicht derjenige Friedrich Schillers.

Zwei Jahre dauerten die Untersuchungen, es wurde mit modernsten Methoden die nur in der mütterlichen Linie vererbte Mitochondrien-DNS geprüft und mehr als eine Computer-Simulation ins Werk gesetzt. Der MDR brauchte am Samstagabend in seiner Sendung "Der Friedrich Schiller Code" neunzig Minuten, um alle vertrackten Einzelschritte auszubreiten, präsentierte einen Laborbericht und ein geöffnetes Verwandtengrab nach dem andern, und am Ende war selbst der aufmerksam mitnotierende Betrachter so konfus, dass er am liebsten gerufen hätte: Noch mal ganz langsam bitte! Aber am Ergebnis ändert das nichts.

Chaos

Neu ist an diesem Befund allein seine Endgültigkeit. Dass, wenn vom selben verstorbenen Menschen drei verschiedene Schädel angeboten werden, mindestens zwei davon die verkehrten sein müssen (mit einem starken Akzent auf dem "mindestens"), versteht sich. Während die Gebeine Goethes immer von der höchsten Pietät zusammengehalten worden waren, hatte es um Schillers Beerdigung 1805 ein ziemliches Chaos gegeben.

Sein Sarg war eilig bei Nacht ins Kassengewölbe des Weimarer Jakobsfriedhofs gebracht worden, und als sich der einsetzende Klassikerkult zwanzig Jahre später besann und den wahren Schädel ans Tageslicht holen wollte, stieß er auf ein Durcheinander von Moder, Knochen und eingestürzten Brettern.

Die erkennungsdienstliche Behandlung ging so vonstatten, dass der Weimarer Bürgermeister Schwabe, der die Operation im März 1826 leitete, sämtliche Schädel vor sich aufstellte und dann entschied: Der ist's!

Das damals vorherrschende Verfahren war die heute in Verruf geratene Phrenologie, die aus der Schädelform durch Messung von Buckeln und Dellen auf den Charakter schloss. Und so musste das am schönsten gewölbte Denkgehäuse wohl das des Dichters sein. Dieser Schädel also wurde ausgesondert, Goethe behielt ihn ein halbes Jahr lang bei sich und schrieb sein Gedicht "Bei Betrachtung von Schillers Schädel". Dann wurde der Schädel in einer Feierstunde, die das erhebliche Missfallen des evangelischen Superintendenten erregte, in der Bibliothek unter einem Glassturz beigesetzt, ehe man ihn endlich in den zugehörigen Sarg bettete.

Reliquienräuber?

Vielleicht war es ja doch - noch - der richtige Schädel. Während die beiden Konkurrenz-Schädel bei der nun abgeschlossenen Klärungsaktion zweifelsfrei ihren vormaligen Trägern zugewiesen werden konnten, bleiben Identität und Herkunft des sozusagen echten falschen Schädels weiterhin ein Rätsel. Er passt so gespenstisch genau zu den Abmessungen der Totenmaske, dass man nicht recht begreift, wie dies bei einem zweiten Schädel innerhalb des doch sehr begrenzten Fundus des Kassengewölbes der Fall sein konnte.

Hat hier ein Reliquienräuber des 19. Jahrhunderts mit einem ungewöhnlichen Maß von krimineller Energie für täuschenden Ersatz gesorgt? Es klingt unglaublich und scheint dennoch die einzig mögliche Erklärung.

Das letzte Wort der Fernsehsendung durfte Hellmuth Seemann, der Vorsitzende der Stiftung Weimarer Klassik, in der Fürstengruft sprechen. Mit beiden Särgen im Rücken, dem vollen Goethes und dem nunmehr leeren Schillers, erklärte er, eigentlich sei diese definitive Verlustanzeige ganz gleichgültig - worauf es wirklich ankomme, sei Goethes Gedicht, sollte sich sein Zustandekommen auch einer ergreifenden Illusion verdanken.

Es klang mehr als ein bisschen nach sauren Trauben. Wäre es wirklich so, hätte man sich den Aufwand am besten gleich gespart. Immerhin schien die gesuchte Gewissheit hier ein so hohes Gut wie sonst bloß die Frage von Leben und Tod eines Menschen, den man schon lang vermisst.

Im übrigen: Auch Goethes Gedicht, ja seine ganze intuitive Forschungsmethode wird aus dem Nachweis des Irrtums nicht unverwandelt hervorgehen. Goethe hätte den DNS-Untersuchungen an Schillers Schädel tief misstraut, es wäre ihm gegen seinen Begriff von Natur gegangen, sie so "mit Hebeln und mit Schrauben", wie er das nennt, unter Zwang gesetzt zu sehen. Frei bietet sich Natur dem offenen Blick dar, oder gar nicht. In den Schlussversen des Gedichts auf Schillers Schädel hat er dieser Art des Denkens in Gestalten gültigen Ausdruck gegeben, so gültig, dass sie ihm selbst wie nichts sonst über sein unüberwindliches Todesgrauen hinweghalfen:

"Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, / Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare? / Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen. / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre." Was wird aus dieser Offenbarung, wenn ihr Beleg Nummer Eins sich als Falsifikat erweist?

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SZ vom 5.5.2008/rus
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