Scherenschnitt:Alles hat seine Bestimmung

Hans Christian Andersen. Poet mit Feder und Schere

Ein paar wenige Schnitte, und schon zeigt sich das „Orientalische Gebäude“, das Hans Christian Andersen 1859 schuf. Meist erzählte und arbeitete der dänische Dichter gleichzeitig und faszinierte damit sein Publikum. Die Werke verschenkte er privat.

(Foto: Odense City Museums)

Die Chinesen haben die Technik erfunden, nach Europa gelangte der Papierschnitt erst im 18. Jahrhundert. Aber er galt nie als Kunst. Das störte weder Hans Christian Andersen, noch stört es heutige Künstler.

Von Sandra Danicke

Heute hat der Scherenschnitt ein Straßenkünstler-Image, man traut ihm nicht allzu viel Komplexität zu. Doch zur Zeit Hans Christian Andersens war die Kunst des versierten Ausschneidens sehr populär. Dass der dänische Dichter darin ein außerordentliches Talent bewies, wussten jedoch vor allem jene, die ihn näher kannten und dabei waren, wenn er seinen Erzählungen mit Schere und Papier ein Gesicht gab.

"Während Andersen saß und erzählte, faltete er ein Stück Papier zusammen, ließ die Schere in Kurven hinein- und hinausfahren, entfaltete das Papier wieder, und da waren die Figuren. Es waren sozusagen kleine Märchen, die entstanden", berichtet etwa eines seiner Patenkinder, Baroness Rigmor Stampe, die ihn als Kind erlebte. "Sofort erkannte man den quicklebendigen Andersen in ihnen. (...) Es waren Schlösser, Schwäne, Kobolde, Engel, Amoretten und andere Fantasiebilder, viele Herzen, ein toter Mann, der an einem Galgen hing, ein 'Kammerherr mit einem Schlüssel hinter dem Rücken', eine Mühle, die ein Mann ist (die Flügel als seine Arme und Beine), und viele andere. Er schnitt sie für die Kinder der Familien aus, die er besuchte, aber oft bekamen die Erwachsenen auch welche."

Es entstand Bild um Bild. Manche waren humorvoll, andere gruselig

Es müssen Hunderte solcher Kostbarkeiten existiert haben, in denen Andersen immer wieder ein bestimmtes Figurenrepertoire wiederholte. Anders als die damals üblichen Porträts, die als einfache Silhouette geschnitten wurden, knickte der Schriftsteller das Papier meist in der Mitte und schuf so frontale, symmetrische Figuren voller Witz. Dabei muss die Kunstfertigkeit des Schneidens mit jener des Erzählens eine faszinierende Einheit ergeben haben, wie zahlreiche Beobachterinnen berichteten. Im Verlauf der Erzählungen entstand Bild um Bild, mal humorvoll, mal gruselig, stets originell.

Bereits als Kind hat sich Andersen mit dem Schneiden menschlicher Gestalten die Zeit vertrieben. Er besaß ein vom Vater gefertigtes Puppentheater, mit dem er gerne spielte. Für dieses entwarf er wohl auch seinen ältesten erhaltenen Scherenschnitt aus dem Jahr 1822: Er zeigt einen Soldaten. Später entstanden komplexere Kompositionen, etwa zwei akrobatisch tanzende Ballerinen oder eine Reihe von orientalischen Architekturen mit Zwiebeltürmen und Minaretten, zuweilen auch hoch komplizierte Scherenschnitte mit mehreren Symmetrieachsen, etwa eine große Arabeske mit Kruzifixen und Totenschädeln, die Andersen 1874 für seine Freundin und Förderin Dorothea Melchior anfertigte.

Erfunden wurde der Scherenschnitt wohl in China, wo bereits vor mehr als 2000 Jahren dekorative Motive aus dünner Goldfolie geschnitten wurden. Vor circa 1000 Jahren, während der Song-Dynastie, entwickelte sich dort die Kunstform des Schattentheaters zu einem professionellen Gewerbezweig. Erst im 17. Jahrhundert verbreitete sich die Technik in Europa, zunächst als sogenannter Weißschnitt aus Papier oder Pergament. Das Themenrepertoire umfasste damals Herrscherporträts, See- und Landschaftsdarstellungen sowie Stillleben, Architekturen und sogar Jagdszenen.

Im 18. Jahrhundert kam die Technik schließlich bei frühromantischen Künstlern wie Philipp Otto Runge in Mode, dessen Pflanzenschnitte eine strenge Schönheit ausstrahlen, weil der Künstler auf jede Binnenbearbeitung verzichtete und dadurch einen erstaunlichen Abstraktionsgrad erreichte. Ihr Gebrauchscharakter - sie waren für Ofen- und Lampenschirme, als Tapetenbordüren, Stickvorlagen oder Kuchenpapiere gedacht - zeugt vom Streben Runges, die Kunst auf alle Lebensbereiche anzuwenden, ließ sie jedoch auch irgendwie banal erscheinen. Aller Virtuosität zum Trotz wurden seine Scherenschnitte daher zwar bewundert, doch nicht wirklich als Kunst wertgeschätzt.

Erst im 20. Jahrhundert hat Henri Matisse den Scherenschnitt als eigene Kunstform etabliert. Mit seinen "gouaches découpées" aus farbig grundiertem Aquarellpapier trieb der französische Künstler seine Suche nach Formen, die auf das Wesentliche reduziert sind, zu einem Höhepunkt. Die Schnittarbeiten ermöglichten dem über siebzigjährigen Maler, sich in seinen letzten Lebensjahren, in denen er aus gesundheitlichen Gründen kaum mehr malen konnte, noch einmal neu zu erfinden und sich gleichzeitig künstlerisch treu zu bleiben. So entstanden leuchtende, stark abstrahierte Tableaus voller Energie und Poesie.

Die Kritik reagierte zunächst jedoch empört auf diese Arbeiten von Henri Matisse. "Müssen wir uns überhaupt mit diesen Schnittarbeiten auseinandersetzen, die, zusammen mit den dekorativen Wandbildern, die große Attraktion der Matisse-Ausstellung sein sollen? Ich halte sie für vollkommen unbedeutend und sie schaden den Gemälden, die direkt daneben hängen. Diese Arbeiten sind inakzeptabel", ätzte ein Kritiker, nachdem er 1949 eine große Retrospektive im Musée National d'Art Moderne in Paris besucht hatte. Matisse ließ sich nicht beirren. Er wusste, dass er etwas völlig Neues, Bahnbrechendes geschaffen hatte, und verglich das Schneiden der Papiere mit dem Meißelschlag des Bildhauers: Jeder Schlag und jeder Schnitt ist unumkehrbar.

In der zeitgenössischen Kunst ist der Scherenschnitt inzwischen längst ein eigenständiges Medium. Bereits seit den frühen Siebzigerjahren zählt der damals als besonders spießig geltende Schattenriss zu den bevorzugten Ausdrucksmitteln von Felix Droese. Noch heute fertigt der Künstler Silhouettenschnitte, die er selber als "Schattenrisse" bezeichnet, weil sie sich mit den Schattenseiten der Gesellschaft auseinandersetzen. So entstanden zahlreiche Arbeiten, mit denen sich Droese zu gesellschaftspolitischen Themen wie Apartheid oder Terrorismus äußert.

Charlotte McGowan-Griffin schuf aus Papier ein wahres Ungeheuer

Auch die US-Amerikanerin Kara Walker wurde mit panoramaartigen schwarzen Scherenschnitten bekannt, die auf den ersten Blick wie idyllische Märchenszenen erscheinen. Schaut man genauer hin, entpuppen sich die scheinbar so friedlichen Bilder jedoch als Szenen voller Gewalt, die von Rassismus, Macht und sexueller Unterdrückung handeln.

Das große Format findet man auch in den Arbeiten von Annette Schröter, die seit 2001 die Möglichkeiten des Mediums erforscht und komplette Wände mit komplexen Landschaften, Architekturen und Ornamenten bedeckt, die sich bisweilen explosionsartig auszubreiten scheinen. Formal erinnern diese Schwarz-Weiß-Szenen an die Technik des Linolschnitts.

Geradezu beängstigend erscheinen die Scherenschnitte von Charlotte McGowan-Griffin. Das gilt vor allem für ein fast drei Meter hohes zotteliges Gewuschel, das die britische Künstlerin so aus mehreren Schichten schwarzen Papiers geschnitten hat, dass ein bedrohlich anmutendes, scheinbar wild wütendes Zentrum entstand. Der Titel der Arbeit "The Origin of the World" verrät, dass McGowan-Griffin sich damit auf das berühmte skandalträchtige Gemälde von Gustave Courbet bezieht, das das Geschlecht einer Frau und nichts sonst zeigt. Mit ihrer Version hat die Britin die Sinnlichkeit des Originals auf überraschende Weise völlig neu interpretiert - und dafür nichts weiter als Schere und Papier gebraucht.

Yuken Teruyas Scherenschnitte wiederum sind hauchzart und poetisch. Der Japaner schneidet die für seine Arbeit typischen filigranen Bäume und Sträucher aus Klopapierrollen, alten Brötchentüten oder anderen benutzten Papierobjekten heraus. Ganz so, als wolle er den zu Müll mutierten Naturmaterialien etwas von dem zurückgeben, was sie ursprünglich einmal waren: Landschaft.

Mit seinen feinen Schnittwerken appelliert Teruya nicht nur an unsere Fähigkeit, Schönheit im Banalen zu sehen, sondern auch an unser ökologisches Gewissen. "Ich wurde zu dieser Idee durch die Naturphilosophie von Aristoteles angeregt, die besagt, dass alles in der Natur sein Ende und seinen Nutzen hat und nichts ohne Bestimmung ist", erklärte der Künstler einmal. Eine Aussage, die auch Hans Christian Andersen gefallen hätte.

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