Schauspieler François Cluzet:"Ein Landarzt ist immer auch Psychologe und Vertrauter"

Schauspieler François Cluzet: "Dass sie eine attraktive Frau ist, spielt für ihn keine Rolle." François Cluzet und Marianne Denicourt in "Der Landarzt von Chaussy".

"Dass sie eine attraktive Frau ist, spielt für ihn keine Rolle." François Cluzet und Marianne Denicourt in "Der Landarzt von Chaussy".

(Foto: Alamode Film)

Als Philippe in "Ziemlich beste Freunde" wurde François Cluzet weltberühmt. Jetzt spielt er einen Arzt, der sich so intensiv um seine Patienten kümmert, dass er nicht einmal Augen für schöne Frauen hat.

Interview von Paul Katzenberger

Nach dem riesigen Erfolg von "Ziemlich beste Freunde" brilliert der französische Schauspieler François Cluzet in der Rolle des störrischen aber liebenswerten Allround-Mediziners Dr. Jean-Pierre Werner. Dieser ist seit mehr als 30 Jahren Landarzt, der seinen Patienten rund um die Uhr zur Verfügung steht. Als er plötzlich selbst erkrankt, ist er gezwungen, eine Vertretung einzustellen. Diese kommt, schneller als ihm lieb ist, in Gestalt der attraktiven Dr. Nathalie Delezia (gespielt von Marianne Denicourt). Bis die Zusammenarbeit funktioniert, muss manche Irritation bewältigt werden. Arzt und Regisseur Thomas Lilti zeichnet in "Der Landarzt von Chaussy" ein authentisches Porträt dieses Berufs, Cluzet gibt ihm ein markantes Gesicht.

SZ.de: Der Doktor Werner, den Sie im Film darstellen, ist ein Mann, dessen Handeln von hohem Ethos geprägt ist. Aber er kommt nicht ohne die ständige Bestätigung aus, gebraucht zu werden. Hat das nicht auch etwas Pathologisches an sich?

François Cluzet: Was Sie ansprechen, ist das typische Problem der Altruisten. Einerseits ist aus medizinischer Sicht sehr gut, was sie tun. Sie sagen nicht: "Ich habe jetzt zehn Minuten Zeit für diesen Patienten." Sie kalkulieren das nicht, und nehmen sich die Zeit, die notwendig ist. Andererseits vergessen Sie sich selbst darüber - wie im Film: Doktor Werner ist sehr krank, er müsste sich schonen, doch das macht er nicht.

Entscheidet Doktor Werner wirklich frei? Oder ist er nicht vielmehr ein Süchtiger, der die Anerkennung des Gebrauchtwerdens ständig spüren muss?

Vielleicht. Aber wer wollte das verurteilen? Denn das lässt sich für jemanden, der jahrelang Landarzt war, kaum vermeiden. Ein Landarzt hat nicht nur die Aufgabe, die Menschen zu verarzten wie ein Stadtarzt, sondern er ist immer auch Psychologe und Vertrauter. Er kennt in der Regel die Eltern und Kinder seines Patienten. Er ist das Gedächtnis des Dorfes. Wenn ein Patient mit Kopfschmerzen kommt, dann weiß er sofort: "Ah ja, dein Vater hatte das auch. Der hatte psychische Probleme wegen Ärger am Arbeitsplatz, deswegen hatte er Kopfweh."

Heißt das, dass der Landarzt der bessere Arzt ist als der Stadtarzt? Weil er den Menschen als Ganzes wahrnimmt und ihn nicht nur auf das körperliche Gebrechen reduziert?

Einerseits auf jeden Fall. Ein Landarzt fängt viel mehr auf als ein Stadtarzt, seine Aufgabe ist viel komplexer. Andererseits gibt es in der Stadt Spezialisten, die einzelne gesundheitliche Problemen sicher besser behandeln können. Wenn ich etwas an den Augen habe, gehe ich in der Stadt zum Augenarzt. Auf dem Land gibt es nur einen Arzt - den Landarzt, dann gehe ich eben da hin.

Regisseur Thomas Lilti wollte in der "Der Landarzt von Chaussy" offensichtlich jedes Pathos vermeiden. Das geht so weit, dass offen bleibt, ob Doktor Werner und Nathalie ein Paar werden. Warum spart der Film dieses Happy End aus?

Wir haben sogar eine Kuss-Szene gedreht, aber Thomas entschied, sie außen vor zu lassen. Denn das wäre zu erwartbar gewesen. Und mit der Szene wäre es auch ein anderer Film geworden.

Warum? Relativiert es den dargestellten Altruismus, wenn da am Schluss zwei Idealisten sind, die sich gegenseitig stützen, um gemeinsam Gutes zu tun?

Ja, genau das wäre der Fall gewesen. Der Altruismus, um den es in diesem Film in der Hauptsache geht, stellt immer den anderen vor einen selbst. Es geht hier also nicht darum, dass sich ein Paar findet, sondern um die Selbstlosigkeit. Die ist für sich gesehen ein hoher Wert, auch wenn sie nicht zum Glück einer erfüllten Partnerschaft führt.

Aber eine Partnerschaft steht dem Altruismus auch nicht im Wege.

Natürlich nicht. Aber persönliche Vorteile stehen für Altruisten nicht im Vordergrund, und seien es die Vorzüge einer Partnerschaft. Wenn man Hingabe vor alles stellt, kann man nicht verführt werden.

Das müssen Sie erklären.

Am Anfang stellt sich für ihn ausschließlich die Frage, ob sie eine gute oder schlechte Ärztin ist. Und er kommt zum Schluss: schlechte Ärztin. Dass sie eine attraktive Frau ist, spielt für ihn keine Rolle. Seine Wahrnehmung von ihr ändert sich erst, als es mitten in der Nacht auf der Baustelle des Bürgermeisters zu einem Unfall kommt, und er sie wirklich braucht. Erst dadurch, dass sie sofort da ist, gewinnt sie seine Anerkennung. Allein deswegen kann er sie lieben. Nur deshalb erkennt er, dass sie eine Frau ist. Das geht für ihn alles über die Kompetenz.

"Jetzt kennt man mich sogar in Deutschland"

Hat Ihre Karriere nach "Ziemlich beste Freunde" einen Schub bekommen?

Es hat sich schon etwas verändert. Ich habe 35 Jahre lang kleine Autorenfilme gemacht, die alle kein großer Erfolg, aber künstlerisch gut waren. Filme mit und von Guillaume Canet wie "Kein Sterbenswort" oder "Kleine wahre Lügen". Dann kam "Ziemlich beste Freunde" und der Film hatte weltweit riesigen Erfolg, ist aber auch künstlerisch sehr gut. Diese Kombination - erfolgreich und gut - war für mich sehr vorteilhaft.

François Cluzet

François Cluzet: "Für mich ist es wichtig, dass ich mich mit allen verständigen kann, wenn ich in ein Team eingebunden bin."

(Foto: AFP)

Wieso genau?

Davor wollten mich immer die Regisseure besetzen, aber die Produzenten nicht. Jetzt bin ich auch bei Produzenten gefragt. Jetzt kennt man mich sogar in Deutschland. Den Film haben hier allein im Jahr 2012 knapp neun Millionen Menschen im Kino gesehen.

Trotzdem hat sich die Karriere von Omar Sy, dem zweiten Hauptdarsteller in "Ziemlich beste Freunde", seither noch sehr viel rasanter entwickelt als bei Ihnen. Er ist inzwischen ein internationaler Star mit Auftritten in Blockbustern wie "Jurassic World" und "X-Men". Das ist bei Ihnen nicht der Fall.

Das stimmt. Aber man muss dazu sagen, dass er die dankbarere Rolle in "Ziemlich beste Freunde" hatte. Er war der Komiker, und ich der traurige Clown. Außerdem hat sich Omar Sy anders entschieden als ich, was die weitere Karriere angeht.

Inwiefern?

Er lebt inzwischen in Los Angeles, und das kommt für mich überhaupt nicht in Frage.

Warum?

Für mich ist es wichtig, dass ich mich mit allen verständigen kann, wenn ich in ein Team eingebunden bin, was beim Film ja immer der Fall ist. Es stört mich extrem, wenn ich mich zum Beispiel den Technikern, die vor Ort sind, nicht mitteilen kann. Ich habe ja zwei Filme in den USA gedreht, und am Set von "Um Mitternacht" (ein Film über Jazz, für den Herbie Hancock 1987 den Oscar für die beste Filmmusik erhielt, Anm. d. Red.) hat es mich extrem frustriert, dass ich die Witze dort nicht verstanden habe. Ich war gestern Abend mit dem deutschen Verleiher von "Der Landarzt von Chaussy" essen, der Franzose ist. Ich fragte ihn: "Verstehst du inzwischen die deutsche Umgangssprache, die Witze?" Und er sagte: "Inzwischen schon, aber ich wohne auch schon 40 Jahre hier." Für mich ist meine Arbeit immer auch eine Frage des Teilhabens.

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