Seit der Aufklärung, also seit mehr als 200 Jahren, ist das Theater ein Ort, an dem aus einer weltlichen Perspektive über die Dinge des Lebens gestritten wird. Selbst wenn Gott noch existiert, ist er meistens ein negativ markierter Fixpunkt - man denke an bürgerliche Trauerspiele wie Hebbels "Maria Magdalena": Die Gläubigen verstehen die Welt nicht mehr.
Wer hätte gedacht, dass ein multilateraler Abend über den Glauben - den christlichen, jüdischen, muslimischen Glauben - heute noch derart brisant, lebendig, herausfordernd sein könnte? Aber so sind die Zeiten: Plötzlich liegen Themen des Glaubens buchstäblich auf der Straße. Und es passt dazu, dass das Schauspiel Köln derzeit nicht im Zentrum der Stadt - und damit auch nicht als antagonistisches Gegenüber des Doms - angesiedelt ist, sondern in Köln-Mülheim, in der Nähe der Keupstraße, wo der NSU einen seiner mörderischen Anschläge verübte. "Hier", sagt jemand auf der Bühne, "fügen sich doch die Konfliktlinien zusammen."
Der Regisseur Nuran David Calis, seinerseits ein (ungläubiger) armenischer Jude, geboren 1976 in Bielefeld, hat sechs Personen gecastet, die nicht nur formell einer Religion angehören, sondern sich zu ihrem Glauben bekennen. Ihnen gegenüber stehen vier Profischauspieler, die gewissermaßen ungläubig staunend die weltliche Perspektive auf das Phänomen des - christlichen, jüdischen, muslimischen - Glaubens repräsentieren sollen. Es wird sich zeigen, dass dieses Konzept nicht glatt aufgeht. Doch zunächst zu den Vertretern des Spirituellen. Da ist eine Nonne, die aus Pubertätswirren heraus zum Glauben gefunden hat, mit 19 ins Kloster eintrat und nun seit mehr als 40 Jahren streng religiös lebt, aber eine "fertige" Nonne sei sie noch lange nicht, sagt sie, im Gegenteil, sie sei nach wie vor "eine Nonne im Werden".
Eine deutsch-türkische Muslima hat sich nach heftigen Konflikten mit ihren Eltern dazu entschlossen, freiwillig und bewusst das Kopftuch zu tragen (einmal habe sie es abgenommen, am Tag ihrer Hochzeit). Ein israelischer Psychotherapeut, dessen Großeltern im KZ umgekommen sind, bezeichnet Deutschland als den "letzten Ort", an dem zu leben er sich hätte vorstellen können - und nun lebt er doch hier, praktiziert seinen Glauben, streitet freundschaftlich mit Christen und Muslimen.
Die Profischauspieler wüssten von den Laien gerne, wie sie zum Glauben gefunden haben
Inszenatorisch passiert an diesem Abend nichts Sensationelles, die Bühne von Anne Ehrlich zeigt zwei große Videowände und darüber einen Glühbirnen-Sternenhimmel: Es mutet an wie eine Talkshow im Fernsehen, nur mit viel besseren Texten. Es wird auch schon mal heftig durcheinandergeredet, aber natürlich beruht diese Inszenierung wie jede andere auf strikten Verabredungen, "improvisieren" lässt sich so etwas nicht. Auch die Leidenschaft braucht ihre Form. Die Lebendigkeit des Diskurses hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Theaterprofis erfahren wollen, wie die Gläubigen - das ist ja doch beneidenswert - zu ihrer Gläubigkeit gefunden haben. Einer der Profis meint provokant, jeder Mensch habe anfangs Eltern, und später suche man sich eben einen Gott als Eltern-Nachfolger, es sei dann alles viel einfacher, man fühle sich "sicherer".
Hier hakt der Schauspieler Martin Reinke ein. Der etwa Sechzigjährige hat ein christliches Internat besucht, wo er mit 15 Gott begegnete. Er habe seinerzeit, berichtet er, eine Art "Pascal'sche Wette" abgeschlossen: Sollte es keinen Gott geben, hätte man nichts verloren; sollte es aber einen geben, und man wäre gläubig, hätte man alles gewonnen. Reinke outet sich also als gläubig, erklärt sich als "falsch eingeordnet", wechselt die Front, torpediert nahezu das Regiekonzept. Mag sein, dass die gläubigen Muslime mit dieser Form von Ironie nicht allzu viel anfangen können, aber Theater ist und bleibt - bei aller Ernsthaftigkeit - immer noch Spiel. Ironie und Esprit gehören dazu. Grausam ernst wird es früh genug, wenn eine Pegida-Frau im Video von einem "Guerillakrieg" faselt, in dem wir uns derzeit befänden.
Dann hält der Schauspieler Mohamed Achour, er ist syrischer Abstammung, eine Wutrede, in der er erzählt, wie ihn einmal ein Regisseur in Köln hartnäckig als "Ahmed" angesprochen habe, und wie demütigend und rassistisch er das empfunden habe. Das führt ein wenig vom Thema ab, aber die Wutrede ist ja zum unverzichtbaren Bestandteil des heutigen Theaters geworden. Achour läuft jedenfalls zu großer Form auf. Später wird es noch eine zweite, mindestens so interessante Wutrede geben, gehalten von einem der Laien, Kutlu Yurtseven. Er protestiert dagegen, dass radikal-islamistische Videos eingespielt werden, unter anderem von einem deutschen Hassprediger, der anlässlich des Attentats auf Charlie Hebdo süffisant anmerkt, die Spötter dürften sich nicht wundern, wenn auch mal eine Reaktion komme, die "etwas anderes als ein Leserbrief" sei.
Hat Yurtseven recht, wird das Bild vom Islam verzerrt, wenn man so ein Video zeigt? Verschiebt sich hier der Tenor des Abends um ein paar schmerzliche Grade zu viel vom "Glauben" zum "Kampf"? Interessant ist, wie vehement und unisono gerade die Profischauspieler sich dafür aussprechen, jeder, auch der radikalsten Aussage unbedingt eine Plattform einzuräumen. Da greift das Erbe der Aufklärung: Pluralität um jeden Preis. Die gläubigen (Theater-)Laien auf der Bühne sind in diesem Punkt weniger hartgesotten. Sie hätten nicht nur auf den Hassprediger verzichten können, sie fühlen sich sogar in ihrem Stolz verletzt. Nicht jede einmal geschlagene Wunde kann ein versöhnlicher, verdienstvoller Theaterabend wie dieser heilen.