"Nathan der Weise" am Schauspiel Köln:Identitätsdebatte mit Lessing

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Stefan Bachmanns Versuch, das Drama in den heutigen Konflikt um Zugehörigkeiten einzubetten, ist waghalsig. Und anregend.

Von Martin Krumbholz

Lessings Humanitätsdrama "Nathan der Weise" von 1779 gilt als ein vorbildlich moderates Werk, perfekter Lehrstoff für die gymnasiale Oberstufe - was man bei Aufführungen an den Heerscharen Pubertierender erkennt, die sie begeistert frequentieren. Stefan Bachmanns Kölner Inszenierung sortiert den Stoff etwas robuster ein, als man es kennt. Nathans Pflegetochter Recha ist nicht nur ein bisschen verkokelt, nein, bei dem verheerenden Feuer, aus dem sie der Tempelherr rettet, wäre sie fast mit Haut und Haar verbrannt. Nun liegt sie bandagiert im Krankenhausbett, bis es sie plötzlich überkommt. "Ich habe einen Engel gesehen!", ruft Lola Klamroth unter Zuckungen aus, und man fühlt sich für einen Augenblick eher an den Hollywoodfilm "Der Exorzist" erinnert als an deutsche Klassik.

Auch den Engel hat Bachmann neu interpretiert; nicht der Tempelherr (Alexander Angeletta) mit seinen antisemitischen Ressentiments steckt dahinter, stattdessen tritt das älteste Ensemblemitglied, Margot Gödrös, als beflügeltes Engelchen leibhaftig auf. Sie ist meist für die Fremdtexte zuständig, die der Regisseur in die Aufführung eingebaut hat. Denn sein ambitionierter Versuch zielt darauf, den "Nathan" in aktuelle Identitätsdebatten einzubinden, was tatsächlich naheliegt. Recha ist von Haus aus Christin, aber jüdisch erzogen, nachdem sie als Säugling dem Kaufmann Nathan anvertraut worden war. Wem "gehört" das Mädchen also? Dem Christentum, dem Judentum, wie Nathan insgeheim hofft, oder aber dem Islam, da ihr leiblicher Vater, wie sich herausstellt, ein Muslim war? Oder ist diese Frage rein akademischer Natur?

Sollte man die übereifrigen Identitätsdiskurse nicht etwas niedriger hängen?

Die Ringparabel, das Kernstück des Dramas, hält eine Antwort darauf bereit, und einen der zentralen Sätze daraus wiederholt Nathan (Bruno Cathomas) ausdrücklich, sozusagen zum Mitschreiben für die Oberstufe: "Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!" Die Ironie greift, denn schaut man auf heutige Diskurse, stellt sich manches zunächst widersprüchlicher dar, als es der Aufklärer Lessing sehen wollte. Die Ringparabelszene situiert Bachmann an einer Palette schlichter Seminartische. Der Sultan Saladin (Kais Setti) und seine Schwester Sittah (Melanie Kretschmann), übrigens in inzestuöser Zärtlichkeit einander verbunden, haben leger die Füße hochgelegt, während sie sich Nathans "Geschichtchen" anhören. Aus anfänglicher Empörung erwächst Nachdenklichkeit. Hat der kluge Jude nicht doch recht, scheint die Inszenierung sagen zu wollen, und sollte man die landläufigen Identitätsdiskurse, denen viele so übereifrig folgen, nicht etwas niedriger hängen?

In einer zweiten zentralen Szene sitzen sich Martin Reinke und Margot Gödrös bei einem Gläschen Rotwein gegenüber. Kurz vorher hat die Gouvernante Daja (Kretschmann in einer Doppelrolle) dem Tempelherrn gesteckt, Recha sei nicht Nathans Tochter, und in ihrem frommen Furor hat sie den hübschen Jungen buchstäblich vergewaltigt. Nun also Reinke in der roten Kardinalsrobe als Patriarch. Mit seiner schneidenden, leicht heiseren Stimme hat er eben dekretiert: "Tut nichts, der Jude wird verbrannt." Und am anderen Ende der Tischpalette Gödrös, der beflügelte Engel. Reinke, am Rotwein nippend, gibt nun den Extremhedonisten à la Marquis de Sade, das perfekte Verbrechen sei der Königsweg zur Emanzipation, da es nun einmal keinen Gott gebe, dürfe man sich eben nur nicht erwischen lassen. Und Gödrös, auf einer etwas anderen Diskursebene, stellt melancholisch fest: Was heute am entschiedensten den Glauben fordere, sei: das Geld.

Woher auch immer diese Zitate stammen: Bachmanns Inszenierung unternimmt den waghalsigen, auf jeden Fall anregenden Versuch, den kanonischen Text auf die Höhe heutiger Konflikte zu führen, die ja kaum weniger virulent sind als Lessings Debatten aus der Zeit der mittelalterlichen Kreuzzüge. Die Temperatur der Aufführung ist hitzig, nicht jeder spricht derart sonor wie Reinkes Patriarch oder Gödrös' Engel. Wo verbirgt sich Gott, wo hockt der Teufel? Das dürfen die Oberstufenschüler am Ende selbst entscheiden.

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