Süddeutsche Zeitung

Schauspiel:Diverser Rausch

Jan Philipp Gloger inszeniert Roland Schimmelpfennigs "Besessene" in Nürnberg

Von Egbert Tholl, Nürnberg

Der Abend beginnt mit einem Clou. Auf der Bühne stehen zwei Blumentöpfe und ein Rednerpult, hinten ist ein Theatervorhang, gelb mit roter Borte. Solche Vorhänge sieht man oft im Hintergrund von Reden oder Pressekonferenzen, zumindest von solchen, die werbefrei sind. Aber natürlich ist es auch einfach ein Theatervorhang, schließlich sind wir im Theater, im Schauspielhaus des Nürnberger Staatstheaters.

Zunächst aber ist der Vorhang reiner Hintergrund. Ulrike Arnold kommt auf die Bühne, weiße Bluse, dunkelblaues Kostüm, ganz Politikerin. Sie fängt an, eine Rede zu halten, in einem maßvollen, sehr genauen Duktus, denn schließlich geht es in der Rede auch ums Maßhalten. "Ein gewaltiges Unternehmen wäre es, wollte man alle Völker aufzählen, die durch ihre üppige Lebensweise untergegangen sind." In der Folge wird es ganz lustig, Arnold spricht davon, dass sich bei den Frauen "allgemeine Unziemlichkeit" zeige - ein älterer Herr vor mir grunzt und nickt zustimmend.

Lustig ist das deshalb, weil Ulrike Arnolds Rede nur so wirkt, als wäre sie heute geschrieben. Sie stammt aber von einem römischen Philosophen und ist fast 2000 Jahre alt. Schon damals gab es also Menschen, die, wie Arnold weiter ausführt, sich darum sorgten, dass Männer nicht mehr echte Männer und Frauen keine braven, lieben Frauen mehr sind.

Dann aber bekommt die aufgeräumte Fassade Risse, Arnold blubbert in ihr Wasserglas, die Rede wird emotionaler, schließlich krabbeln aus dem Redepult heraus zwei Hände an ihrem Körper entlang bis zu ihrem Busen. Nun ist es vorbei mit der Contenance, Ulrike Arnold gibt die Kontrolle der moralversessenen Politikerin auf.

Jan Philipp Gloger inszeniert zum Saisonstart des Nürnberger Staatsschauspiels "Die Besessenen", eine Bearbeitung der "Bacchen" des Euripides, die Roland Schimmelpfennig 2016 für das Theater Basel anfertigte. Seine Version des antiken Stücks bleibt diesem im Kern sehr treu, ist aber schlank, nüchtern, modern, im Grunde ein Sprachchamäleon wie die Rede, die Gloger dem Stück voranstellt. Diese hält Agaue, gespielt von der wunderbaren Ulrike Arnold, Mutter von Pentheus und mit diesem zusammen darauf bedacht, dass in Theben, über das sie herrschen, alles seine Ordnung hat. Blöd nur, dass ein Fremder auftaucht, der gerade die Frauen ganz wuschig macht, worauf diese im Wald wild tanzen und noch viel wildere Sachen machen. Während der gelassene, bei Gloger auch entzückend tolpatschige, blinde Teiresias (Felix Mühlen) und Pentheus' Opa und Theben-Gründer Kadmos den Streberherrscher vor der Macht des Fremden warnen, bleibt Pentheus seiner Haltung treu. Bis, auch eingeflüstert durch den listigen Großvater, der sehr lebendig in seinem Rollstuhl sitzt (Frank Damerius), auch bei ihm eine Neugierde keimt.

Der Fremde ist Dionysos, und der ist Rausch, aber nicht nur das, sondern auch Freiheit. Freiheit von Identität, von normierter Sexualität. Es gibt ihn hier dreimal, gespielt von Annette Büschelberger, Anna Klimovitskaya und Cem Lukas Yeginer, der seit Kurzem beim Münchner "Polizeiruf 110" mitermitteln darf. Dieses Trio besteht aus Profis in verschrobener Verspieltheit, welches Geschlecht wer in welchem Moment verkörpert, kann sich jeder selbst aussuchen. Auf jeden Fall verführen sie Pentheus hin zu den wilden Frauen, und wie Sascha Tuxhorn peu à peu des Herrschers Widerwillen in Interesse wandelt, das ist schon auch sehr schön.

Geht aber nicht gut aus, Agaue, die eigene Mutter, zerreißt ihn im Rausch und sammelt, kurz entsetzt, aber gleich wieder pragmatisch aufgeräumt, die verbliebenen Körperteile zusammen. Das ist ein prächtiger Aberwitz in einer Aufführung, die ganz leise schreiend komisch und auf präzise Art verrückt ist.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2019
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