Schauplatz Zürich:Beklemmung im Schauspielhaus

110 Minuten im Theater können langweilig, packend oder aber beklemmend und erschöpfend sein. Letzteres ist jetzt dem Zürcher Schauspielhaus gelungen mit der Dramenfassung von Lars von Triers Film "Dogville".

Von Charlotte Theile

Die Zuschauer im Theater sind im Schnitt 30 Jahre alt, und die Frage des Abends lautet: "Hast du den Film gesehen?" Ja, aber es ist lange her. An die Handlung kann man sich kaum noch erinnern, an das Gefühl, als der Abspann lief, umso besser. Totale Beklemmung, Erschöpfung. Jetzt 110 Minuten ohne Pause, das kann heiter werden.

"Wir fangen ganz langsam an", verspricht ein junger Lockenkopf im schwarzen Anzug, dann schnüffelt er, streckt die Zunge heraus, bellt. Alles klar, Hundekäfig. Ganz hinten links im Bild eine zitternde Frau im goldenen Kleid, vorne stellen sich die Dorfbewohner vor. Die Männer mit Hosenträgern, die Frauen in geblümten Kleidern. "Dogville" von Lars von Trier erzählt die Geschichte eines kleinen Dorfs in den Rocky Mountains, in dem eine Frau auf der Flucht Unterschlupf sucht. In Zürich wurde das Stück von Stephan Kimmig neu inszeniert.

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ ) dankte dem Schauspielhaus vor allem dafür, das "fatalistische Menschenexperiment" nicht auf "eine neue, weitere Flüchtlings-debatte" umgemünzt zu haben. Ist aber auch nicht nötig. Wenn in der Schweiz von einem kleinen abgeschiedenen Dorf die Rede ist, in dem ein scheinbar mittelloser Mensch Zuflucht sucht, horchen ohnehin alle auf. Das Theater ist auch Wochen nach der Premiere voll, wenn sich die Schauspieler auf der Bühne fragen, was sie jetzt davon haben, dieser verfolgten Frau Obdach zu bieten, rutschen die Menschen unruhig auf ihren Sesseln herum.

Grace, von der NZZ treffend als "zu sexy, offenherzig und ungekämmt" beschrieben, macht das, was Neuankömmlinge meistens tun. Sie hilft bei der Ernte, pflegt die Alten, hütet die Kinder. Die Dorfbewohner sind begeistert, dann zieht die Katastrophe auf. Ein "Wanted"-Plakat verspricht Kopfgeld für Grace. Das Dorf findet, die junge Frau zu verstecken, sei nun eine viel größere Gefahr. Grace müsse mehr arbeiten, um das aufzuwiegen. Die Stimmung beginnt zu kippen.

Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wird Grace zur Sklavin. Anders als bei Lars von Trier wird auf der Bühne nicht gezeigt, wie Grace von den Männern des Dorfes vergewaltigt wird. Der junge Mann mit dem Lockenkopf murmelt ein paar Sätze ins Mikrofon, Grace wird unter der Bühne in einem Kabuff voller Erde gefangen gehalten, den Rest kann man sich denken. Doch die Bewohner von Dogville wollen noch mehr, die Belohnung auf dem "Wanted"-Plakat. Sie rufen an - und kurz darauf erscheint Graces Vater, ein Gangsterboss.

Kurz darauf fällt der Vorhang. Grace hat sich entschieden, die moralischen Standards, die sie an sich selber stellt, auch an Dogville anzulegen. Alle Bewohner sind umgebracht worden, das Publikum wie betäubt. Der Applaus fällt kurz aus. "Ich kann jetzt noch nicht reden, ich konnte auch nicht klatschen", "Ich muss jetzt alles über diesen Film lesen". Beklemmung, Erschöpfung, auch bei der nächsten Vorstellung wird das Schauspielhaus Zürich wieder voll sein.

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