Schauplatz Touraine:Göttliche Liebe und irdische Passion

Wie die Faust aufs religiöse Auge und doch passend: Bei einer Trauung in einem kleinen Ort an der Loire wird "Hymne à l'amour", das berühmteste aller Liebeslieder von Édith Piaf, gesungen.

Von Andreas Zielke

Ein junges Paar heiratet in einem kleinen Ort an der Loire: erst zivil vor der Bürgermeisterin und anschließend vor dem Priester in der Gemeindekirche St. Pierre. Längst ist der Alltag auch auf dem Land komplett säkularisiert, selbst jede Sonntagsmesse ist eine leere Geisterveranstaltung. Bei einer Trauung aber füllt sich die Kirche bis zum letzten Platz. Bevor man darüber ins Grübeln kommt, lässt einen die heutige Hochzeit miterleben, wie nahe sich das religiöse Ehegelübde und der irdische Eheschluss kommen, so himmelweit sie doch voneinander entfernt scheinen.

Nachdem der karge zivile Trauungsakt vollzogen war und sich alle in die Kirche begeben haben, bezeugt der Priester, ein Schwarzafrikaner, zunächst den ungeheuren religiösen Ernst. Erst die kirchliche Trauung wandle das Eheversprechen zum Sakrament. In der Liebe der Eheleute offenbare sich nichts Geringeres als die Vereinigung von Christus mit der Kirche. Aber um Herz und Seele der beiden Gatten für diese übermenschliche Vereinigung zu öffnen, muss der Geistliche auf das irdische Leben der beiden eingehen. Dort muss die Kraft gefunden, dort müssen die Schwächen benannt werden. In der Tat nimmt der Glaubensmann die vor ihm sitzenden Liebenden mit ihrer konkreten Vorgeschichte derart nachdrücklich ins Gebet, dass sie sich betreten die Augen reiben. Vor allem den Ehemann, von dem er weiß, dass dieser den Heiratsentschluss länger hinausgezögert hatte, nimmt er sich mit rhetorischer Strenge zur Brust, als müsste er ihm vor aller Welt erst noch die Leviten lesen.

Aber mitnichten findet das reale Leben nur durch den engen Trichter scharfer Appelle Eingang in die Messe. Tatsächlich entpuppt sich der Priester auch als ebenso begnadeter wie gnädiger Entertainer. Immer wieder streut er Scherze in sein frommes Mahnen ein, um dem Paar und der Gemeinde Momente amüsanter Entspannung zu gewähren. Eine Pointe sitzt besonders: Auf die überraschende Zwischenfrage an den Ehemann, der ein bekannter Winzer der Region ist, ob er denn biologische Weine herstelle, erhält der Priester die bejahende Antwort, woraufhin dieser entgegnet, das wolle er doch meinen, schließlich habe Jesus, als er Wasser in Wein verwandelte, ja ebenfalls biologischen Wein produziert.

Doch wie sich irdische Liebe und religiöse Liebeseinheit unentwirrbar ineinander spiegeln, beweist dann endgültig der letzte Akt der Zeremonie. Denn nun singt ein Mitglied der Gemeinde, eine junge Mutter, sehr gekonnt und sehr bewegend die "Hymne à l'amour", das berühmteste aller Liebeslieder von Édith Piaf. Es ist zum Dahinschmelzen, aber es passt hier wie die Faust aufs religiöse Auge. Im Grunde ist es an diesem Ort ein Sakrileg, doch weder der Priester noch sonst jemand stört sich daran, im Gegenteil, die Kirchenstimmung ist selig: Édith Piaf hatte das Lied 1949 für Marcel Cerdan geschrieben, ihren damaligen Liebhaber, nein, die große Liebe ihres Lebens; aber Cerdan war verheiratet, mit seiner Frau hatte er drei Kinder. Dass ausgerechnet dieses Lied einer großen außerehelichen Affäre in der Dorfkirche das eheliche Sakrament emotional besiegelt, ein Lied, dessen Text zudem die radikale Amoralität der Liebe feiert ("ich verrate meine Freunde, ich verrate mein Vaterland, wenn du es verlangst") - das schließt hier den unmöglichen Kreis zwischen der reinen Liebe ganz da oben und der profanen Liebespassion ganz hier unten.

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