Schauplatz Rio:Der Klub der Königinnen

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Wenn der Vorhang aufgeht, wird aus dem Ex-Stewart Hilmar Alvarenga die Diva Patricia Saint Laurent. Willkommen im "Turma OK", einer Schwulen- und Travestiegruppe, die von sich behauptet, die weltweit älteste Vereinigung dieser Art zu sein.

Von Boris Herrmann

Jeden ersten Sonntag im Monat verwandelt sich Hilmar Alvarenga in Patricia Saint Laurent. Oft verbringt er zwei bis drei Stunden vor dem Schminkspiegel, er geht auf die 70 zu, "es gibt einiges zu kaschieren". Draußen vor der Bühne sitzen an diesem ersten Sonntagabend des Jahres 2018 knapp zwanzig ältere Herren sowie drei Frauen, die sich die Zeit bis zum Showbeginn mit Bingo vertreiben. Die meisten trinken Mineralwasser und knabbern Popcorn aus der Mikrowelle. Dann, kurz nach 22 Uhr: Licht aus, Spot an, Patricia tippelt auf die Bühne. Ihre Stöckelschuhe lassen sich unter dem bodenlangen Kleid nur erahnen, um ihre Schultern liegt ein goldener Poncho, der hervorragend mit dem Glitzervorhang im Hintergrund harmoniert. Dazu trägt sie eine schwere Brosche sowie eine braune Perücke, die aussieht, als wäre sie von einem Loriot-Sketch mit Evelyn Hamann übrig geblieben. Patricia singt "I'd like to hate myself in the morning" von Shirley Bassey. Play-back versteht sich, mit Mikrofon-Attrappe. Der Vortrag ist alles andere als aufreizend sexy, man kommt sich eher vor wie bei einem leicht schrillen Kaffeekränzchen. Und genau das macht den Charme dieser Show aus. Das Publikum ist begeistert.

Die Schwulen- und Travestiegruppe "Turma OK" gibt es seit 1961, ihre Mitglieder sind größtenteils keine Transvestiten. Viele führen ein Alltagsleben als Anwalt, Bankangestellter, Rentner, Familienvater. Was sie verbindet, ist die gelegentliche Lust, sich in Damengarderobe zu zeigen. Sie bezeichnen sich als den ältesten noch aktiven Club dieser Art weltweit. Das lässt sich schwer überprüfen, ist aber auch egal. Es handelt sich in jedem Fall um einen einzigartigen Ort in Rio de Janeiro, so bizarr wie herzlich. "Die meisten von uns kommen noch aus einer Zeit, als schwul sein in der Familie extrem verpönt war. Also ist das hier unsere Familie", sagt Roberto Iglesias alias Sofia Monroe.

Die deutsche Fotografin Anja Kessler hat diese Familie über Jahre hinweg begleitet und sie nun in einem wunderbaren und sehr intimen Bildband verewigt, "Der Klub der Königinnen", heißt er. Jedes Jahr werden in der Turma OK zwei Schönheitsköniginnen gekürt, um den Wettbewerb nicht zu verzerren, gibt es eine Altersschranke. Aus den jüngeren Teilnehmern (bis 40) wird die "Musa OK" gewählt, alle anderen bewerben sich um den Titel der "Lady OK". Die Jury legt vorab das Thema fest, mal Bond-Girls, mal Sternzeichen, mal Liza Minnelli. Männer, die sich nicht als Frauen verkleiden wollen, konkurrieren in der Kategorie "Mister OK".

Es grenzt an ein Wunder, dass dieser Club die brasilianische Militärdiktatur überdauert hat. Aus Sicherheitsgründen durfte damals im Publikum nicht geklatscht, sondern nur geschnipst werden, "je leiser, je besser", sagt Sofia Monroe. Bis heute hängt kein Schild an dem unscheinbaren Treppenaufgang im Ausgehviertel Lapa. Rio wird derzeit von einem evangelikalen Bürgermeister regiert, für den Homosexualität ein heilbares Übel ist.

Trotzdem gibt es Anzeichen des Fortschritts. Hilmar Alvarenga, pensionierter Stewart, stammt aus einer Militärfamilie. Erst als der Vater starb, hatte er den Mut, seiner Mutter von seinem Parallelleben als Patricia zu erzählen. Heute sitzt die Mama, 92 Jahre alt, sonntags regelmäßig im Publikum. Sie hat sich dort sogar noch einmal neu verliebt - in einen rund dreißig Jahre jüngeren Mann, der einmal in der Woche als Diva auf der Bühne steht.

© SZ vom 10.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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