Jüngst gab es in Istanbul einen fürchterlichen nächtlichen Sturm. Jeder Donner wie ein Kanonenschlag und Blitze, die über dem Bosporus zuckten. Am nächsten Morgen fiel mir die Möwe ein, die auf einer Dachpfanne brütet, direkt unter meinem Fenster. Was hat sie gemacht, aufgegeben? Sie saß immer noch auf ihrem Nest. Seitdem habe ich Respekt vor den Möwen.
An die Möwe wiederum dachte ich beim Besuch des "Depo". Dies ist ein ehemaliges Tabaklager, es gehörte der Familie von Osman Kavala, der es in einen Ort für wechselnde Ausstellungen verwandelt hat. Dem Mäzen wird am 24. Juni der Prozess gemacht, wegen der angeblichen Finanzierung des Gezi-Aufstands, einer bürgerlichen Revolte, die genau vor sechs Jahren Istanbul in Atem hielt. Kavala sitzt schon seit 580 Tagen in Untersuchungshaft, die Anklageschrift ist voller Absurditäten. Seine Stiftung Anadolu Kültür aber macht weiter, so beharrlich wie die Möwe.
Die aktuelle Ausstellung im Depo heißt "Shared Sacred Sites" (Geteilte Heilige Stätten). Sie war schon in Paris, New York, Tunis und Thessaloniki zu sehen, in jeweils etwas anderer Zusammensetzung. Nun liegt der Schwerpunkt auf Istanbul. Die Zahl der Orte, die hier bis heute ohne viel Aufhebens von Christen und Muslimen gemeinsam verehrt werden, ist erheblich, aber vielen Menschen wohl eher unbekannt. Einer der prominenteren liegt auf der größten Prinzeninsel vor Istanbul, das Kloster des Heiligen Georg (Aya Yorgi), Pilgerziel von Frauen mit Kinderwunsch, egal welchen Glaubens. Die weißen Zettelchen, die auf dem Weg zum Kloster in die Bäume geknüpft werden, erinnern an ein viel älteres, womöglich antikes Ritual. Wer weiß das schon. Die Ausstellung ist bis 14. Juli zu sehen ( www.depoistanbul.net).
Dort habe ich auch das Koço wiederentdeckt. Das ist ein altes Fischrestaurant im asiatischen Stadtteil Kadıköy. Wer dort speist, kann sich nach dem Essen mit einer Kerze bedanken, nicht beim Koch, sondern bei der Heiligen Katerina. Das Lokal ist über einer heiligen Quelle erbaut. Ayazma nennen die Türken ein wundertätiges Wasser. In der Kneipe führen ein paar Stufen zur Kapelle im Keller. Griechische Fischer haben sie in den Zwanzigerjahren errichtet, orthodoxe Ikonen schmücken die Wände. Der erste Kneipier war ein Grieche, Konstantinos hieß er, daher Koço. Seine türkischen Nachfolger halten das Kirchlein in Ehren, die Stammgäste tun es auch. Es gibt in Istanbul vieles, was dem Vergessen trotzt.