Süddeutsche Zeitung

Schauplatz Istanbul:Eine Anklage in Pumps

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Die Wand voller Schuhe erinnert an einen Friedhof. Sie stehen für Frauen, die von Männern getötet wurden.

Von Tomas Avenarius

Reiseführer erwähnen das Schöne und Vergangene. Und wenn es nicht das Schöne ist, so wird das Hässliche dann eben zum historisch Sehenswerten. Wer Zeit findet für einen Spaziergang am europäischen Ufer des Bosporus, der kommt am Tophane-Arsenal vorbei, dem Zeughaus, in dem die Sultane die Kugeln und Granaten für ihre Kanonen produzieren ließen, am Dolmabahçe-Palast, in dem Staatsgründer Atatürk von Krieg, unermüdlicher Volkserziehung und Lebensstil gezeichnet 1938 verstarb und wo die Besucher sein Sterbebett am Todestag bis heute mit Rosen überhäufen, er passiert das İstanbul-Modern-Kunstmuseum und kommt vorbei am Beşiktaş-Stadion, einer Fußballarena, die inzwischen Vodafone-Park heißt.

Ein paar Moscheen und ein Marine-Museum liegen auch am Weg, klassisch schön, klassisch Reiseführer. Weniger klassisch als Zeughäuser, Paläste und die Sterbebetten großer Staatsmänner ist das, was schräg gegenüber vom İstanbul Modern an der Uferstraße in einer vom allgemeinen Bauwahn verschonten Nische zwischen zwei Gebäuden zu sehen ist. 440 schwarze Paar Frauenschuhe ziehen sich an den Wänden hoch, gut 15 bis 20 Meter, ein Paar neben dem anderen.

Die 440 Paar schwarzer High-Heels auf den vielen Quadratmetern nackter Betonwand haben die Anmutung eines Friedhofs. Sie stehen für die 440 Frauen und Mädchen, die im Jahr 2018 von ihren Männer, Brüdern, Vätern oder von Wem-auch-immer-Männern getötet wurden. Der bedrückend eingängige Kommentar ist eine grabsteinartige Marmortafel, auf der steht: "Namenlos".

Der Istanbuler Künstler, Designer, Musiker und Blogger Vahit Tuna, der diese düstere Nische an der Uferstraße gestaltet hat, ist einer, der sich einmischt. Vorbild beim Thema Femizid war ihm eine weithin vergessene Tradition: Wenn in der Türkei ein Mensch verstirbt, hängen manche Familien ein Paar seiner Schuhe neben die Haustür, um den Tod eines geliebten Men-schen anzuzeigen. Es ist genau das Gegenteil also zu dem, wie nicht nur in der Türkei mit dem Thema Gewalt gegen Frauen umgegangen wird.

Auch wenn der türkische Staat Frauenhäuser und Hotlines einrichtet, bleibt Femizid ein Tabuthema. "Kahve Dünyasi", eine Art türkischer Starbucks, stellt diese Istanbuler Hauswand, bekannt als "die Ecke nebenan", zur Verfügung, jeweils für ein halbes Jahr, Kunst und Anklage anstelle von grellbunten Werbeflächen. Die Ausstellungszeit für Vahit Tunas Pumps-Projekt ist dort zwar seit Ende März abgelaufen, aber im Corona-Takt laufen die Uhren anders, bedeuten auch hier alte Termine wenig. In diesem Fall mit einem unerwarteten Nebeneffekt: Auch wenn es noch keine zuverlässigen Zahlen gibt, wird bereits jetzt erkennbar, dass die Gewalt gegen Frauen in der familiären Quarantäne in der Türkei wieder zunimmt. Die Installation an der Wand mag daran nichts ändern. Aber sie zeigt auf die Verbrechen, zeitlos und aktuell.

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Quelle:
SZ vom 22.04.2020
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