Süddeutsche Zeitung

Schauplatz Berlin:Kräne und Kreative im Problemkiez

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An diesem Freitag wird der Grundstein für den Neubau der "taz" gelegt - Beim Fest müsste unbedingt an Astronomen erinnert werden. Wirklich!

Von Lothar Müller

Der Kran ragt über 40 Meter hoch in den Himmel über der südlichen Friedrichstadt. Fest verankert steht er in der Baugrube, in der Betonplatte des ersten Untergeschosses. An diesem Freitag wird hier die Grundsteinlegung für den Neubau der taz gefeiert. Und am Samstag folgt ein Fest im Besselpark, der an die Baugrube grenzt. Es wird Live Musik von der IG Blech geben, und eine Jukebox mit 160 Songs aus den 160 Ursprungsländern der Kiezbewohner. "Die neuen Nachbarn" haben dazu eingeladen, denn der taz-Kran ist nur einer von vielen Kränen in der Nähe des ehemaligen Blumengroßmarkts. Ein ganzes "Kreativ-Quartier" entsteht hier. Vor der Baugrube zum Projekt Frizz23 hat sich gerade ein Lastwagen vollkommen verkeilt. Die Räume in dem mehrgeschossigen Gebäude, das hier entsteht, sind schon zu 100 Prozent vergeben. Es wird Künstlerateliers geben, Etagen für Bildungsinstitutionen, Schriftsteller-Apartments, Architekturbüros. Nebenan entsteh das Metropolenhaus für eine gemischte Nutzung aus Gewerbeeinheiten und Privatwohnungen. Schon seit einigen Jahren hat das Jüdische Museum in der umgebauten Halle des Blumengroßmarktes seine Akademie eröffnet.

Zeitungen machen den alten Himmelsboten irdische Konkurrenz

Es ist von den Kränen nur ein paar hundert Meter zum Checkpoint Charlie und zum jetzigen Redaktionsgebäude der taz an dem Teil der Kochstraße, der jetzt Rudi-Dutschke-Straße heißt. Diese Adresse wird die taz verlieren und mit ihr die direkte Nachbarschaft zum Springer-Hochhaus. Dafür wird das alte Berliner Zeitungsviertel im neuen "Kreativquartier" vertreten sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg war davon wenig übrig, die gesamte südliche Friedrichstadt heftig zerstört. Aus dem Belle-Alliance-Platz, der durch die Erinnerungen der Kinder des Bürgertums geisterte, wurde der Mehring-Platz. Der Kiez um ihn herum war schon zu Westberliner Zeiten ein "Problemkiez", noch immer kommt die Mehrheit der Schulkinder aus Familien, die von Hartz IV leben. Und mitten in der Kranlandschaft steht, eingezäunt, ein verlassenes Haus wie übriggeblieben aus der Vorwendezeit, mit dunklen Fensterhöhlen und der roten Blockbuchstaben-Aufschrift "Gegen Ende" an der Fassade.

Vom Checkpoint Charlie aus flanieren die meisten Berlin-Besucher nach Norden, an den neuen Quartieren und am eleganten Kaufhaus Lafayette vorbei Richtung Unter den Linden und Bahnhof Friedrichstraße. Im Besselpark neben den Kränen in der südlichen Friedrichstadt ist es leer, auf dem Sockel der rostroten Skulptur eines amerikanischen Künstlers schläft ein Erschöpfter. Die Skulptur ist aus Kugeln, Linien, Kreisen zusammenmontiert. Vielleicht träumt sie von dem Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel, nach dem der Park benannt ist. Er hat einige Monate in der nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel errichteten Neuen Sternwarte gearbeitet, die 1913 abgerissen wurde. Als im September 1846 in ihr der Planet Neptun entdeckt wurde, war Johann Franz Encke ihr Direktor. Die taz-Mitarbeiter werden auf die Kreuzung Bessel/Enckestraße blicken können. Als die Zeitungen groß wurden, gehörten die Berichte über Himmelserscheinungen, allen voran die Kometen, zu ihrem Nachrichtenstoff. Die Zeitungen machten den alten Himmelsboten Konkurrenz, als irdische Boten, die verlässlich wiederkehrten wie Sonne und Mond, als Abendblatt und Morgenblatt. Zeitungen sind Beobachtungsstationen, wie die Sternwarten. Wenn die IG Blech am Samstag aufspielt, sollte ein Tusch den Astronomen gelten, den alten Nachbarn.

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SZ vom 23.09.2016
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