Schauplatz Berlin:Die Edelplatte in der Wilhelmstraße

Die Platte wird plattgemacht: Die Gebäude in der Wilhelmstraße 56-59 waren die letzten, die noch in der DDR errichtet wurden.

Von Lothar Müller

Langsam kriechen die Planierraupen über den Schuttberg, den sie abtragen. Die Abrissbirne hat gerade Urlaub. Denn sie ist gut vorangekommen. Von den Plattenbauten in der Wilhelmstraße 56-59 stehen nur noch die Eckgebäude zur Behrenstraße hin. Sie gehörten zu den letzten, die noch in der DDR errichtet wurden, und zu den ersten, bei denen in der DDR die Planung computergestützt betrieben wurde. "Edelplatte" nannte sie der Volksmund. 1988 war Baubeginn; als sie 1992 fertiggestellt wurden, war die Mauer schon gefallen. Aber die Adresse hieß da noch Otto-Grotewohl-Straße. Erst 1993 erhielt die Wilhelmstraße ihren alten Namen zurück.

Die Platte wird plattgemacht. Die Berliner lieben Wortspiele. Seltsam übrigens, dass es ausgerechnet Mauersegler waren, die gemeinsam mit den Sperlingen und einigen Fledermäusen den Abriss hinauszögerten. Die Niststätten der Vögel mussten nach und nach verschlossen werden, während der Investor, der hier eine Neubau-Zeile errichten will, mit den menschlichen Bewohnern über Ersatzwohnungen oder Abfindungen für ihren Auszug verhandelte. Aus ihren dunklen Augenhöhlen blicken jetzt die in Ruinen verwandelten Gebäude auf ihr Gegenüber auf der anderen Seite der Wilhelmstraße, die "Promi-Platte", in der früher mal Angela Merkel, Kati Witt, Gregor Gysi und Franz Müntefering wohnten, und auch der inzwischen verstorbene Günter Schabowski, der Mann mit dem berühmten Zettel, der am 9. November 1989 die Öffnung der Grenzübergangsstellen beschleunigte. Jetzt soll in der Promi-Platte das Geschäft mit der Vermietung von Ferienwohnungen florieren. Die normalen Mieter aber werden bleiben. Diese Edelplatte wird nicht abgerissen.

Und es werden weiterhin Touristengruppen über die Wilhelmstraße ziehen. Sie kommen vom Holocaust-Mahnmal und suchen nach dem Ort Ecke Voßstraße, an dem einst die Reichskanzlei stand, kommen auf dem Weg dahin an einem der wenigen erhaltenen Gebäude des alten Regierungsviertels vorbei, dem Palais, in dem am Ende der Weimarer Republik Konrad Adenauer als Präsident des Preußischen Staatsrates residierte. Wer Berlinbesucher durch die Wilhelmstraße führt, erzählt von Straßenecke zu Straßenecke preußische und deutsche Geschichte seit dem 18. Jahrhundert. Die Fremdenführer wissen viel und erzählen es in vielen Sprachen. Nur, wohin die Mauersegler gezogen sind, weiß keiner genau zu sagen.

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