Schauplatz Almaty:Gesellschaft auf gepackten Koffern

In Kasachstan leben Künstler in ständiger Angst, dass sie verhaftet werden. Vor der Wahl gab sich die Theaterchefin Anastassija Tarassowa noch kämpferisch. Jetzt hat sie Hemmungen.

Von Silke Bigalke

Der Eingang zur Bühne liegt im Park, vor dem Eingang sitzt Anastassija Tarassowa wie in ihrem eigenen Garten. Ein Treffen in Almaty, vor der Wahl im Juni. Damals war das Theater Artishock in den Fokus geraten. Theaterchefin Tarassowa hatte die Bühne für eine nächtliche Diskussion geöffnet, mehrere hundert Menschen kamen. Es ging um den gerade zurückgetreten Autokraten Nursultan Nasarbajew und um die Proteste gegen seine inszenierten Wahlen in Kasachstan.

Proteste in Almaty sind oft kleine, kreative Einzelaktionen. Ein Künstler zitiert auf einem Plakat die Verfassung, ein Aktivist liest ein Gedicht vor. Meistens werden sie dabei festgenommen. Das war vor der Wahl so, und es ist jetzt, mit Nasarbajews ausgesuchtem Nachfolger, nicht anders.

Sie gaben Hamlet. Damit kritisierten sie den Ausverkauf Kasachstans an China

Vor der Wahl hat Anastassija Tarassowa den vorwiegend jungen Aktivisten, die sonst nirgendwo hingehen konnten, die Tür zum großen fensterlosen Theaterraum geöffnet. Eine "impulsive menschliche Entscheidung" sei das gewesen, an die Folgen hatte sie nicht gedacht. Die Polizei übte Druck auf die Vermieter aus, die die Theatergruppe jederzeit vor die Tür setzen könnten. "Wenn ich jetzt im Gefängnis wäre, würde ich wahrscheinlich sagen, dass es falsch war", sagte sie damals im Park. "Wir sind alle Feiglinge."

Was ist die Aufgabe eines unabhängigen Theaters in einem autokratisch regierten Land? Sie würde die Frage so nicht formulieren, aber genau darüber hat sie viel nachgedacht. Im Theater sprächen sie noch über Probleme, die die Medien, die meistens unter Staatskontrolle stehen, längst nicht mehr behandelten. Etwa darüber, warum die kasachische Gesellschaft wie auf gepackten Koffern sitze. "Darüber, dass wir nicht an die Zukunft unseres Landes glauben, in Unsicherheit leben."

In dieser Saison haben sie Hamlet gespielt, und dabei den Ausverkauf des Landes an China kritisiert. Hamlets Familie erinnerte sehr an die mächtigste Familie Kasachstans. Am Ende wehte eine chinesische Fahne auf der Bühne. "Viele Jahre lang beweisen wir hier, dass wir so tapfer sind. Aber das wird in einer Sekunde zunichtegemacht", hat sie über die große Angst gesagt, die sie nach diesem nächtlichen Treffen überkam. Über Politik zu diskutieren und über den Präsidenten ist riskant in Kasachstan. Was, wenn sie oder das Theater bestraft würde? "So schlecht ging es mir nie", hat Anastassija Tarassowa gesagt. Später, zum Wahltag, gab es große Proteste auf den Straßen von Almaty und Astana. Hunderte wurden festgenommen.

Wenn man Anastassija Tarassowa heute anruft, ist sie noch unsicherer als damals. Sie trauten sich nicht mehr wie früher, im Freien zu proben, sagt sie. "Für alles, was Aufmerksamkeit auf die Straße zieht, wird man sofort festgenommen." Sie hat den Kollegen geraten, nicht an Protestaktionen teilzunehmen, die es immer noch gibt, weil Reisen anstanden, Festivaleinladungen. "Man hat keine Garantie, dass man im Flughafen nicht festgenommen wird."

Sie würde die jungen Künstler, die kritische Lieder komponieren, Gedichte vortragen und Schilder hochhalten, gerne unterstützen. Man müsste sich zusammentun, hat sie vor der Wahl gesagt. "Wir sind schöpferische Menschen. Es ist interessant zu versuchen, dieses System zu überlisten." Heute sagt sie, niemand tue sich zusammen, auch weil die Angst bremst.

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