Schauplätze des Ersten Weltkriegs:Jeder Mann ein Achill oder Hektor 

Kaiser Wilhelm II. bei der Truppe in Galizien

Deutsches Gefühl sittlicher Überlegenheit: Wilhelm II. bei den deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen in Galizien.

(Foto: dpa)

Die Fronten waren beweglicher, Geländegewinne leichter zu erzielen, aber der Erste Weltkrieg im Osten ist weitgehend unbekannt geblieben. Was erzählt die Literatur über ihn?

Von Stephan Speicher

The unknown war" betitelte Churchill 1931 sein Buch über die Ostfront des Ersten Weltkriegs, und dass der Krieg im Osten unbekannt geblieben ist, das gilt bis heute. Die Deutschen erinnern sich an Tannenberg, vielleicht an die Winterschlacht in Masuren 1914/15 und dann wieder an den Frieden von Brest-Litowsk.

Der Westen steht im Vordergrund. Hier hatten Niederlage und Friede von Versailles ihren Ursprung. In dem ungeheuren Materialeinsatz, in der blinden Technizität zeigte die Westfront das modernere Aussehen. Nach einigen Wochen hatte sich dort der Krieg festgefressen, der höchste Einsatz brachte kaum taktische, keine strategischen Gewinne, alle Opfer waren sinnlos, auch militärisch.

Doch waren die Kriegshandlungen im Osten kaum weniger verlustreich. Aber dort gibt es keine Gedenkstätten, es gibt, anders als im Westen nicht die Orte, deren Namen die Erinnerungen wachrufen. Zu diesem Erinnerungsmangel trägt auch die Literatur bei. Jeder Leser hat eine (wenn auch vielleicht nur undeutliche) Vorstellung vom Krieg im Westen, wie ihn Erich Maria Remarque oder Ernst Jünger beschreiben. Aber was liest man über den Osten?

Am schnellsten dürfte uns Georg Trakls Gedicht "Grodek" einfallen. Und wirklich hat man den Eindruck, dass von einem anderen Krieg die Rede ist. Trakl hatte an der Schlacht von Grodek (Galizien) im September 1914 als Militärapotheker teilgenommen und in einer Scheune 90 Schwerverwundete ohne Medikamente und ärztliche Hilfe zu versorgen. Das erschütterte bis zum Nervenzusammenbruch, auf dem Rückzug unternahm er einen Selbstmordversuch. Am 3. November 1914 starb er, der Krankenakte zufolge durch einen zweiten Suizidversuch.

Doch sein Gedicht schlägt den Ton der Heldenklage an. Es sind nicht sinnlos Dahingeschlachtete, denen die "stolzere Trauer" gilt. Das "vergossne Blut" ist "rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt". "Der Schwester Schatten" naht sich, "zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter". Die "ehernen Altäre", auf denen "die heiße Flame des Geistes" brennt, sind doch wohl Zeichen einer großen Opfers, das einer größeren Sache gebracht wird.

Sprache des großen Heldengedenkens

Auch in anderen Gedichten aus den ersten Wochen des Krieges arbeitet Trakl mit klassischen Würdeformeln. Immer wieder ist vom Purpur die Rede ("ein strahlender Helm/Sank klirrend von purpurner Stirne", "die purpurne Woge der Schlacht", "der purpurne Leib"): Der Verwundete oder Sterbende ist in sein Blut gehüllt wie der Feldherr oder Kaiser in seinen Mantel.

Auch vor dem Krieg schon führte Trakl eine seelisch gefährdete Existenz. Er war stark drogenabhängig, in seiner Lyrik waren Motive von Herbst, Tod, Abend und Abschied stets gegenwärtig. Wenn er das Blut der Verwundeten als Purpur aufscheinen lässt, ist das kaum als Beitrag zur geistigen Mobilmachung gemeint. Und doch ist es irritierend, in solch berühmten Gedichten der literarischen Moderne die Sprache des großen Heldengedenkens zu finden. Würde man das auf diesem künstlerischen Niveau in Werken finden, die unter dem Eindruck der Westfront verfasst wurden?

Ähnliche Beobachtungen kann man auch in den Briefen des Harry Graf Kessler machen. Für Freunde hatte er einen Privatdruck anfertigen lassen, der gerade nachgedruckt worden ist. Man kennt Kessler als den "roten Grafen", den Weltbürger, nach dem Krieg als Verfechter der europäischen Verständigung.

Alles andere als romantisch

Doch während des Krieges ist er unbedingt vom Recht der deutschen Sache überzeugt. Im Juli 1915 berichte er von den "Aufregungen des Dnjester-Überganges", den er als Nachrichtenoffizier bei einem österreichischen Division mitmacht. Kessler rühmt die Tapferkeit beider Seiten ("Auch die Russen waren großartig") und resümiert: "Es waren Kämpfe, wie sie wohl selten in der Kriegsgeschichte vorgekommen sind, homerisch, jeder Mann ein Achill oder Hektor".

Diesen hohen Ton würde man bei Jünger vergeblich suchen. Dabei ist Kessler durchaus klar - er spricht es schon im November 1914 aus -, dass der Kriegs alles andere als romantisch ist. "Er ist ein gigantisches, geschäftiches (!) Unternehmen." Die Arbeit im Armeeoberkommando gleicht der in einer Bank, das Pflichtbewusstsein der deutschen Soldaten dem Ernst der Arbeiter. Nicht die Bravour würde den Ausschlag geben. Und darin trifft er, was Historiker über den Krieg im Osten sagt: Die Fronten sind beweglicher, die russische Brussilow-Offensive 1916 führte zu größeren Geländegewinne als alles, was die Alliierten im Westen versuchten.

Im Bewusstsein preußischer Überlegenheit

Aber zuletzt wurde hier wie dort der Krieg durch die Abnutzung oder Erschöpfung entschieden. Russland ist das Opfer solcher Erschöpfung, so kommt es zum Frieden von Brest-Litowsk.

Schauplätze des Ersten Weltkriegs: Kriegspostkarte mit einer Szene aus dem Bewegungskrieg.

Kriegspostkarte mit einer Szene aus dem Bewegungskrieg.

(Foto: AP)

Doch Österreich-Ungarn geht es kaum besser. Der Krieg im Osten ist seit 1915 vor allem einer um die Stabilität Österreichs in Galizien und auf dem Balkan. Die habsburgischen Armeen haben bereits zur Jahreswende 14/15 große Verluste erlitten, sind erschöpft und demoralisiert.

Das deutsche Oberkommando schickt eigene Truppen und Offiziere, zum Teil werden österreichische Bataillone von deutschen Kommandeuren geführt. Das führt zu Schwierigkeiten, und Kessler spricht es im Bewusstsein deutscher, speziell preußischer Überlegenheit aus: Den Österreichern liege die Gemütlichkeit, nicht aber das Pflichtgefühl, das gefährde die Kriegführung. Wenn es nicht gelinge, durch Erziehung "von Kind auf" dies zu ändern, sei der Fortbestand Österreichs unmöglich. So, wie er sei, eigne sich der Österreicher nicht zum "Träger großstaatlichen Lebens".

In diesem Gefühl sittlicher Überlegenheit der Deutschen schrieb Kessler auch Hugo von Hofmannsthal über den Mangel an "nüchterner Tüchtigkeit" in Österreich. Und man kann sich leicht vorstellen, dass der bellend unsympathische norddeutsche Baron Neuhoff in Hofmannsthals Komödie "Der Schwierige" ("ihr kalter, wollender Verstand hebt ja den Kopf aus jedem Wort") auf solchen Eindrücken aufbaut.

Konflikte mit der "deutschen Tüchtigkeit" mögen erklären, dass die Österreicher sich nicht so leicht an den Krieg in Galizien und den Karpaten erinnern. Aber der Krieg spitzte noch ein anderes habsburgisches Problem zu, die "Vielheit der Völker".

Es ist während des Krieges und danach viel diskutiert worden, wie es mit der Loyalität der nicht-deutschen Truppenteile stand. Dass die Idee des Reiches, einer Gesamtheit von Völkern, irgendwann nicht mehr trug, ist der Kern des Romans "Die Standarte" von Alexander Lernet-Holenia.

Jaroslav Hašeks "Schwejk" ist eine große Ausnahme

Der junge Fähnrich Menis fühlt sich der Standarte seines Dragoner-Regiments "Maria Isabella" verpflichtet. Sie ist ihm Sinnbild der Treue, mit der Regimenter und Völker zu Kaiser und Reich stehen. Schon die Namen der Regimenter - "Beide Sizilien", "Royal Allemand", "Toskana-Ulanen" - sprechen vom alten Charakter des Reiches, das Ordnung über den Nationen halten will.

Aber die Zeit der Reichsidee ist vorbei, die Truppen wollen nicht mehr, sie meutern. Der Zerfall ist unabwendbar, ihn aufzuhalten hat in der Prinzipienfestigkeit schon etwas Inhumanes. "Die Standarte" ist keines der ganz großen Meisterwerke der Literatur, aber der Konflikt von europäischer Ordnung und nationalem Eigensinn packt den Leser doch.

In großer epischer Objektivität schildert Lernet-Holenia, wie Heer und Reich sich auflösen: "Der Krieg dauert für unsere polnischen und ruthenischen Bauern schon zu lange (. . . ) Sie haben nur mehr ihre galizischen Häuser und Äcker im Sinn. Das Reich bedeutet ihnen nichts mehr. Nicht mehr die Idee, nur der starre Eid bindet sie noch an uns."

Der Erste Weltkrieg entließ eine Reihe neuer Staaten und Staatsnationen aus sich, aber ein großes Thema ist er in deren Literatur nicht geworden. Es war für diese Völker der falsche Krieg. Jaroslav Hašeks "Schwejk" ist eine der großen Ausnahmen, eben weil die Verkehrtheit des Krieges Thema wird. Was Kaiser und Reich sind, das geht den braven Soldaten nichts an. Deswegen kann er ständig mit seinen Anekdoten aus dem Zusammenhang der Großen ausbrechen.

Der falsche Krieg war 1914/18 auch für die russische Literatur, ein zaristischer, imperialistischer Krieg. Und mehr noch: es war der Krieg, der hinter Revolution und Bürgerkrieg verschwinden sollte, ein erster Höhepunkt der Gewalt, die über das Land hinwegging. Das ist allerdings ein ganz eigenes Thema.

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