Kolumne Gehört, gelesen, zitiert:100 Jahre und kein bisschen weiser

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Titelseite der wöchentlichen Schweizer Satirezeitschrift "Nebelspalter" aus dem Jahr 1920. (Foto: Engeli & Partner Verlag)

Die Schweizer Satire-Zeitschrift "Nebelspalter" brachte 1920 ein Gedicht zu den Reaktionen auf die damaligen Grippe-Maßnahmen. Im Corona-Jahr klingt es erstaunlich aktuell.

Von beg

Sicher, es hat schon Vergleiche zwischen den Pandemien gegeben: Dort die Grippe vor über 100 Jahren, hier die aktuelle Corona-Pandemie. Um Methoden der Seuchenabwehr ging es bei diesen Vergleichen, um Maskenpflicht und Hygienemaßnahmen, um Verbreitungswege und unzählige Tote, um Abschottung, Schulschließung und Pflegepersonal. Selten wurde der Vergleich gezogen zum Verhalten der Bevölkerung auf die von der Politik und Verwaltung verordneten Maßnahmen. Auf Twitter macht nun ein Gedicht die Runde, das diesen Vergleich aufdrängt. Es ist über 100 Jahre alt, heißt: "Die Grippe und die Menschen" und ist erschienen in der schweizerischen Satirezeitschrift "Nebelspalter" (in No. 10 v. 06.03. 1920) Würde darin nicht die damalige Grippe ausdrücklich angesprochen, man müsste es für ein aktuelles Corona-Gedicht halten.

"Als Würger zieht im Land herum

Mit Trommel und mit Hippe,

Mit schauerlichem Bum, bum, bumm,

Tief schwarz verhüllt die Grippe.

Sie kehrt in jedem Hause ein

Und schneidet volle Garben -

Viel rosenrote Jungfräulein

Und kecke Burschen starben.

Es schrie das Volk in seiner Not

Laut auf zu den Behörden:

"Was wartet ihr? Schützt uns vorm Tod -

Was soll aus uns noch werden?

Ihr habt die Macht und auch die Pflicht -

Nun zeiget eure Grütze -

Wir raten euch: Jetzt drückt euch nicht.

Zu was seid ihr sonst nütze!

's ist ein Skandal, wie man es treibt.

Wo bleiben die Verbote?

Man singt und tanzt, juheit und kneipt.

Gibt's nicht genug schon Tote?"

Die Landesväter rieten her

Und hin in ihrem Hirne.

Wie dieser Not zu wehren wär',

Mit sorgenvoller Stirne:

Und sieh', die Mühe ward belohnt.

Ihr Denken ward gesegnet:

Bald hat es, schwer und ungewohnt,

Verbote nur geregnet.

Die Grippe duckt sich tief und scheu

Und wollte sacht verschwinden -

Da johlte schon das Volks aufs Neu'

Aus hunderttausend Mündern:

"Regierung, he! Bist du verrückt -

Was soll dies alles heißen?

Was soll der Krimskrams, der uns drückt,

Ihr Weisesten der Weisen?

Sind wir denn bloß zum Steuern da,

Was nehmt ihr jede Freude?

Und just zu Fastnachtszeiten - ha!"

So gröhlt und tobt die Meute.

"Die Kirche mögt verbieten ihr,

Das Singen und das Beten -

Betreffs des andern lassen wir

Jedoch nicht nah uns treten!

Das war es nicht, was wir gewollt.

Gebt frei das Tanzen, Saufen.

Sonst kommt das Volk - hört, wie es grollt,

Stadtwärts in hellen Haufen!"

Die Grippe, die am letzten Loch

Schon pfiff, sie blinzelt leise

Und spricht: "Na endlich - also doch!"

Und lacht auf häm'sche Weise.

"Ja, ja - sie bleibt doch immer gleich

Die alte Menschensippe!"

Sie reckt empor sich hoch und bleich

Und schärft aufs neu die Hippe.

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