Sarrazin: Intelligenz definieren:Gehirn und Erbse

Es gibt ja auch kein Strick-Gen: Thilo Sarrazin politisiert mit seinen Aussagen über erbliche Intelligenz wissenschaftliche Ungewissheiten. Und was ist überhaupt Intelligenz?

Andrian Kreye und Christian Weber

Wenn man in diesen Tagen vor einer Münchner Waschstraße eine recht umgangssprachliche Diskussion über Genetik und Bildungswesen verfolgen kann, dann geht es natürlich um: "Sarrazin". Um den Polemiker, der wie ein Popstar keinen Vornamen mehr braucht. Und deswegen sind solche volkstümlichen Debatten kein Bildungserfolg, sondern ein Problem. Thilo Sarrazin hat in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" ein rhetorisches Minenfeld betreten. Er führt die Naturwissenschaften als Zeugen für seine gesellschaftspolitischen Thesen vor.

Deutscher Zukunftspreis 2006

Die umstrittenen Aussagen Sarrazins lösen eine neue Debatte über Intelligenz und Geneinflüsse aus. Sarrazin begründet seine Thesen mit genetischer Grundlagenforschung aus dem 19. Jahrhundert. Dass Psychologen sich bis heute schwertun, Intelligenz zu definieren, stört ihn nicht.

(Foto: dpa)

Der liberale Ekelreflex, der sich da einstellt, wurzelt sicherlich im frühen 20. Jahrhundert, als die Eugenik die Grundlagen für Rassenlehren begründete. Doch die biologischen Erklärungen für Intelligenz beschränken sich nicht nur auf die Herrenrassen-Ideologie der Nazis. Vom akademischen Rassismus in der "Belle Curve"-Theorie der Harvard-Wissenschaftler Charles Murray und Herrnstein bis zum philosemitischen Biologismus des Anthropologen Gregory Cochran haben die Debatten doch immer wieder dahin geführt, dass die Naturwissenschaft nicht ausreicht, um Mensch und Gesellschaft zu erfassen.

Das Perfide an Sarrazins Argumentation: Viele Details sind korrekt, nur das Gesamtbild stimmt nicht. Das Problem beginnt bereits damit, dass Psychologen sich bis heute schwer damit tun, Intelligenz überhaupt zu definieren. Eine Minderheit von Forschern zweifelt deshalb sogar am Sinn eines einheitlichen IQs. Der Harvard-Psychologe Howard Gardner schlug vor, mindestens sieben Intelligenzarten zu unterscheiden, darunter auch musikalische, körperlich-kinästhetische oder emotionale Intelligenz. Seine Hypothese fand viel Zuspruch in der Öffentlichkeit, auch deshalb, weil sich nun jede gesellige Runde für ihre schlechten Mathematik-Noten entschuldigen konnte: Man verfüge ja immerhin über soziale Kompetenz. Gardners Konzept wurde jedoch nie empirisch geprüft; zudem bezweifeln die meisten Fachkollegen, ob man Fähigkeiten wie Kompetenz beim Umgang mit anderen Menschen als kognitive Leistung werten sollte.

Viele Psychologen flüchten sich deshalb achselzuckend in eine Scheindefinition. Sie sagen: "Intelligenz ist, was Intelligenztests messen." Das klingt absurder, als es ist, denn der IQ-Wert prognostiziert nämlich tatsächlich relativ zuverlässig schulischen und beruflichen Erfolg. Der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf von der Berliner Humboldt-Universtität geht deshalb einen Schritt weiter und definiert in seinem führenden Lehrbuch: "Intelligenz ist, was Intelligenztests messen, die so konstruiert wurden, dass sie das Bildungsniveau möglich gut vorhersagen." Oder kurz: "Intelligenz ist die Fähigkeit zu hoher Bildung." Und da Abitur und gute Uni-Abschlüsse letztlich auch zu Sozialprestige und hohen beruflichen Status führen, verwundert es nicht, dass auch der Streit um die Herkunft von Intelligenz-Unterschieden immer wieder unerbittlich geführt wird.

Einig ist man sich heute in der Wissenschaft zumindest, dass Intelligenzunterschiede sowohl durch Vererbung als auch durch die Umwelt zu erklären sind. In einem vor kurzem erschienenen Überblicksartikel eines Psychologenteams um Ian Deary von der University of Edinburgh wird der Einfluss der Gene auf die Intelligenz in der Tat auf 30 bis 80 Prozent geschätzt - relativ niedrig sei er in der Kindheit, während er beim Erwachsenen auf 70 bis 80 Prozent ansteigt. Die entscheidende Frage ist allerdings: Was bedeutet diese Aussage?

Lesen Sie weiter auf Seite 2, welche Umweltfaktoren und welche genetischen Faktoren eine Rolle spielen.

Gen oder Umwelt?

"Es gibt keine Einbahnstraße vom Genom zur Persönlichkeit, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes Wirkungsnetz", kommentiert der Berliner Psychologe Asendorpf. Dass ein Gen direkt auf eine Persönlichkeitseigenschaft wie Intelligenz wirke, sei ähnlich abwegig wie die Annahme, es müsse sich ein Strick-Gen im menschlichen Genom verbergen, nur deshalb, weil fast ausschließlich Frauen diese Tätigkeit ausüben und das Geschlecht sich nun mal in aller Regel rein genetisch entscheide.

Das Genom sei, so Asendorpf, eben kein einfaches Programm, das einfach abgespult werde. Vor allem bei einer so komplexen Eigenschaft wie der Intelligenz stehen viele Gene und ihre Produkte in Wechselwirkung miteinander, wobei die Genaktivität zudem zeitlich variabel ist und eben auch von der Umwelt abhängt. Angemessener sei daher der Vergleich des Genoms mit einem Text, aus dem im Verlauf des Lebens immer wieder kleine Teile abgelesen werden, wobei der Text nur begrenzt, was gelesen werden kann. Er entscheidet nicht, was überhaupt oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gelesen wird. Das hänge auch davon ab, was zuvor und mit welchen Wirkungen gelesen wurde, Rückkopplungseffekte seien zu beachten.

Die Forschung spricht dafür, dass auch die Intelligenz in einem derartigen komplexen Zusammenwirken von Erbgut und Umwelt entsteht, wobei sich beide Faktoren gegenseitig beeinflussen. So wird sich ein intelligent veranlagtes Kind eher in die Bücherei begeben und Bücher lesen, die wiederum seine Intelligenz anregen, die wiederum zu weiterer Lektüre führen. Geschwister, Elternhaus, Lernumwelten in der Schule entscheiden also mit, ob das Genom überhaupt zeigen kann, was in ihm steckt.

Ob Gen oder Umwelt wirkt, ist also manchmal gar nicht klar zu unterscheiden. Eine klassische Studie zu diesem Thema publizierte die US-Psychologin Barbara Burks bereits 1928. Sie konnte im Vergleich von Adoptions- und Kontrollfamilien nachweisen, dass intelligente Kinder, wenn sie in der leiblichen Familie aufwachsen, tendenziell profitieren: Ihre Eltern schaffen aufgrund ihrer eigenen Intelligenz, die zum Teil auf der Ähnlichkeit ihres Genoms mit dem der Kinder beruht, eine intellektuell anregendere Umgebung mit mehr Büchern und Kultur. Experten sprechen hier von einer passiven Genom-Umwelt-Kovarianz.

Umgekehrt können schlechte Umwelten negative Auswirkungen auf die Intelligenzentwicklung nehmen. Mehrere Studien zeigen, dass Kinder zwar durchaus ein oder zwei Risikofaktoren wie Armut oder labile Eltern verkraften. Wenn es aber mehr als ein halbes Dutzend Risikofaktoren werden, dann sinkt der Durchschnitts-IQ der betroffenen Kinder um bis zu 30 Prozent. Trotz des prinzipiell starken genetischen Einflusses kann also die Umwelt entscheidend dafür sein, ob ein Kind Abitur macht oder auf der Förderschule landet. Angesichts solch komplizierter Zusammenhänge zu postulieren, dass Intelligenz einfach nur so von Generation zu Generation weitergereicht werde, ist etwas platt.

Im Übrigen gibt es für die Warner vor dem intellektuellen Untergang des Abendlandes noch eine interessante Nachricht: In den westlichen Kulturen nahm zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der durchschnittliche IQ beständig zu. Und dieser Zuwachs von etwa drei Punkten pro Jahrzehnt war zu schnell, um ihn genetisch zu erklären. Vermutlich beruhte dieser sogenannte Flynn-Effekt auf den sich ständig verbessernden Lebensbedingungen von Schwangeren und Kleinkindern, wohl deshalb korreliert er auch mit der ständig wachsenden Körpergröße.

So wissenschaftlich differenziert argumentiert Thilo Sarrazin also gar nicht. Er führt dann eben doch Charles Darwin und Gregor Mendel ins Feld, deren genetische Grundlagenforschungen aus dem 19. Jahrhundert zunächst einmal den Erbsen und den Schnabeltieren galten. Die großen Namen der modernen Genetik und Evolutionsbiologie, Steven Pinker, George Church oder Craig Venter, die Debatten die sie auslösten, die fehlen. Denn die Unsicherheiten der Wissenschaft passen nicht in die schlichte Rhetorik von "Deutschland schafft sich ab".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: