Sarah Halls Dystopie "Die Töchter des Nordens":Unantastbare Kriegerinnen

Sarah Halls Dystopie "Die Töchter des Nordens": Sarah Hall ist 1974 in Cumbria in Nordengland geboren. Ihr Kriegerinnen-Szenario spielt also in der Landschaft, aus der sie kommt.

Sarah Hall ist 1974 in Cumbria in Nordengland geboren. Ihr Kriegerinnen-Szenario spielt also in der Landschaft, aus der sie kommt.

(Foto: Richard Thwaites)

Sarah Halls dystopischer Roman "Die Töchter des Nordens" erschien 2007 im englischen Original. Seitdem ist ihre Katastrophenerwartung nicht gerade unplausibler geworden.

Von Fritz Göttler

"Als sie mich zum zweiten Mal holten, hielt ich es sieben Tage im Hundeloch aus ..." Das Hundeloch ist ein enger Eisenkasten, der Boden mit Scheiße verklebt, wenn das Wasser alle ist, trinkt man seinen eigenen Urin, die Luft ist eiskalt, der Winter naht. Der ultimative Härtetest für die Frauen von Carhullan - für die unter ihnen, die sich dem Training zur Kriegerin unterziehen ("The Carhullan Army" ist der Originaltitel des Romans von Sarah Hall). Damit bereiten sie sich darauf vor, der Folter zu widerstehen, sollten sie in Gefangenschaft geraten.

Carhullan heißt eine Gemeinschaft in den Bergen von Cumbria im Norden Englands, abgelegen, autark, alternativ, nur Frauen hier. Dorthin bricht die junge Erzählerin auf, als das Leben in ihrer Heimatstadt Rith ihr unerträglich wird. England ist nach einer Ökokatastrophe einem totalitären Regime unterworfen, es gibt einen strengen Zehnjahresplan für den Wiederaufbau, alles ist von der "Obrigkeit" reguliert und rationalisiert, das Essen, die Arbeit, der Sex, die Liebe. Die Frauen kriegen Spiralen eingesetzt, nur wer in einer Lotterie das große Los zieht, darf ein Kind kriegen. Die Armee ist in Kriege in China und Amerika verwickelt, die Medien sind verschwunden, mit ihnen der Widerstand. Das ist nicht mehr England, sagen viele, die diese Entwicklung erleben mussten. Das Land ist in Regionen zerfallen, die Hauptstadt London hat ihre Bedeutung verloren. Die alten Höfe und Cottages verfallen, Autowracks liegen als leere Hülsen einer privilegierten Epoche herum.

Das ist die weibliche Version nihilistischer Zen-Ertüchtigung aus amerikanischen Kriegsfilmen

Die junge Frau bleibt namenlos auf eigenen Wunsch, sie wird "Schwester" genannt, die anderen aber, mit denen sie leben und lieben und kämpfen wird, nennt sie mit Namen, Jackie, Megan, Lorry, Chloe, Shruti. Gleich am Tag ihrer Ankunft wird Schwester ein erstes Mal ins Hundeloch gesteckt, ein erster Test. Für die einen ist Carhullan das mythische Shangri-La, der Sehnsuchtsort außerhalb der Zeiten. Für die anderen ein Hexennest, ein Ort für Desertierte. Es wird dort Landwirtschaft betrieben, Viehzucht, Torfstecherei. Es gibt Gemeinschaftsräume, Lieder am Abend, gleichgeschlechtliche Liebe. Männer spielen nur am Rande mit, ein wenig Liebe, ein wenig Fortpflanzung. Alles eine Frage des Überlebens. Feuchtigkeit und Kälte gehen nicht mehr weg. Schwester hat eine Gabe mitgebracht, ein Gewehr ihres Vaters aus dem Weltkrieg.

"Die Töchter des Nordens" ist eine Frauen-Dystopie in der Tradition von Doris Lessing oder Margaret Atwood. Sarah Halls Roman ist bereits 2007 in England erschienen, also noch vor der "Me Too"-Debatte, seine Katastrophenerwartung stammt aus einer Zeit vor dem Brexit, vor der Trump-Präsidentschaft und lange vor der Corona-Pandemie. Kühle und Leidenschaft prägen die Erzählung, es handelt sich um "Protokoll Nr. 498", die Aussage einer Gefangenen, sieben Akte insgesamt, nach der Niederschlagung eines Aufstands. Schwester ist fasziniert von Jackie Nixon, der Führerin von Carhullan, ihrem Charisma, in dem sich demagogische, hexenhafte, erotische, paranoide Momente mischen. Sie erschafft das obligatorische Feindbild, den demagogischen Zirkelschluss: Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Obrigkeit angreifen wird, also muss man zuerst losschlagen. Was den Aufstand selbst angeht, sind die Akten aber lückenhaft. Dreiundfünfzig Tage haben die Aufständischen durchgehalten.

Sarah Halls Dystopie "Die Töchter des Nordens": Sarah Hall: Die Töchter des Nordens. Roman. Aus dem Englischen von Sophia Lindsey. Penguin, München 2021. 254 Seiten, 20 Euro.

Sarah Hall: Die Töchter des Nordens. Roman. Aus dem Englischen von Sophia Lindsey. Penguin, München 2021. 254 Seiten, 20 Euro.

Schwester weiß, dass sie ein Nichts geworden ist, dass der Gang nach Carhullan ein Selbstmordkommando war. In ihr pulsiert die Gemeinschaft der Frauen. Man kennt so eine nihilistische Zen-Ertüchtigung aus amerikanischen Kriegsfilmen, aus Stanley Kubricks "Full Metal Jacket". "Me Too" martialisch: "Sie hat uns nicht zu Monstern gemacht. Sie hat uns einfach nur die Macht gegeben, uns in die unantastbaren Wesen zu verwandeln, als die der Gott der Gleichheit uns vorgesehen hat. Wir wussten, dass sie dabei war, die alten, unbrauchbaren Versionen unseres Geschlechts zu dekonstruieren, und nur deshalb so skrupellos vorging, weil diese Konstrukte auf Dauer ausgelegt waren. Sie hat die Mauern eingerissen, die uns gefangen hielten. Auf der anderen Seite kam eine frische, rote Wiese zum Vorschein, und aus dem üppigen Boden sprossen all die Blumen des Krieges, die zu pflücken die Geschichte uns verwehrt hatte."

Die Erzählung hat einen naiven Unterton, aber sie wird vielfach gebrochen und reflektiert. "Die Töchter des Nordens" zeigt die Pathologie einer Stirb-und-Werde-Logik, das Psychogramm des einsamen Herrschens, die Dialektik einer Revolution.

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