Süddeutsche Zeitung

Sammelband:Augenzwinkern bis der Arzt kommt

Lesezeit: 2 min

Günter Kunerts Harmlosigkeiten aus sechs Jahrzehnten.

Von Jörg Magenau

Eine Affäre ist ein politischer Skandal oder aber ein erotisches Abenteuer von meist flüchtiger Erscheinung. In dieser Doppeldeutigkeit sind auch die "vertrackten Affären" Günter Kunerts zu verstehen, denn sie handeln allesamt von erotischen Versuchungen oder politischen Verstrickungen. Nach der Gesamtausgabe seiner kürzeren Prosa, liefert dieser Band nun das Liegengebliebene und verstreut Publizierte nach: Zeitungstexte, Miniaturen, Glossen und Gebrauchsprosa aus sechs Jahrzehnten, die früheste kleine Geschichte von 1954, die letzte von 2010. Den Auftakt macht ein Mann, der wegen Augenzwinkerns beim Arzt erscheint. Er leidet gewissermaßen an eingebauter ironischer Zurücknahme des Gesagten, all der Politphrasen der Zeit, und das war in der frühen DDR vielleicht weniger harmlos, als es heute erscheint.

Die Jahresdaten werden zwar am Ende der Texte angegeben. Das lässt zumindest auf Veröffentlichungsorte in der DDR (bis 1979) schließen, als Kunert in den Westen ging, nachdem ihm als einem, der gegen die Biermann-Ausbürgerung 1977 protestiert hatte, die SED-Mitgliedschaft entzogen worden war - auch das eine "Affäre". Bei einem Autor, der sich stets auf gesellschaftliche Zustände bezog, ist der Ort des Schreibens nicht ganz unwichtig, und es ist ein Unterschied, ob eine Geschichte vor oder nach 1989 entstand.

Erstaunlich, wie wenig spürbar die Zeitgeschichte hier ist

Der Herausgeber Hubert Witt verzichtet jedoch auf eine chronologische Ordnung und verrät auch nicht, in welchen Zeitschriften die Texte jeweils erschienen sind. So entsteht ein merkwürdiger Effekt: Herausgelöst aus ihren Entstehungsbedingungen tendieren die Geschichten ins zeitlos Parabelhafte und bekommen damit einen Anspruch aufgebürdet, den sie nicht einlösen können.

So beteiligte Kunert sich zwar an den Um- und Überschreibungen mythologischen Materials, als es in der DDR mit Christa Wolfs "Kassandra" und den Dramen Heiner Müllers zu einer Mode wurde, Kritik an gegenwärtigen Zuständen in unverdächtiger Vergangenheitsform zu verkleiden. Kunert lebte aber schon im Westen, als er Odysseus als Rentner auf die Insel der Kirke zurückkehren ließ, um in einer albtraumhaften Nacht mit einem Schwein zu kopulieren.

Oder Kunert bediente sich bei E.T.A. Hoffmanns Olimpia, der hölzernen, mechanischen Puppenfrau, um auch dieser Geschichte eine modernere Variante hinzuzufügen. Die ebenfalls im Labor entstandene Idealsportlerin, die in allen Disziplinen gewinnt, könnte eine Persiflage auf hochgedopte DDR-Sportler sein, ist aber auch erst im Westen entstanden. Und wer würde bei den Stimmen im Telefon, die einen Mann in den Wahnsinn treiben, nicht an Überwachungs- und Zersetzungsmethoden der Stasi denken? Doch in Kunerts Geschichte aus dem Jahr 1989 geht es nur um eine Liebesintrige mit tödlichem Ausgang.

Erstaunlich, wie wenig spürbar die historischen und biografischen Brüche in diesen Texten sind. Der skeptische Tonfall, der moderate Humor, aber auch eine etwas abgestandene Harmlosigkeit ziehen sich durch. Oft geradezu pubertär und ärgerlich sind die ins Genitale zielenden Scherze, so eine allenfalls in einer billigen Illustrierten brauchbare Anekdote über einen Mann, dem die Ärzte, weil sie ihn fälschlicherweise für tot halten, den Penis entfernen, um ihn einem anderen zu transplantieren, was wiederum dessen Ehe in neue Bahnen lenkt.

Wer Spaß an so etwas hat, findet in den "vertrackten Affären" vielleicht etwas. Insgesamt aber wirken diese Prosatexte für den Tagesgebrauch, die meist einem kleinen, originellen Einfall folgen, den sie durchexerzieren, seltsam schal. Das hat im Dienst der Vollständigkeit seinen Platz. Dass Kunert aber wegen seiner Lyrik überdauern wird und nicht mit diesen Schnurren, ist wohl auch klar.

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Quelle:
SZ vom 28.06.2016
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