In Peking tritt Samia erstmals in Laufschuhen an, bei den Olympischen Spielen 2008. Es sind geborgte Schuhe, von einer chinesischen Athletin, die die junge Läuferin aus Somalia betreut. Ihr Vater Yusuf hatte Samia ein eigenes Paar versprochen, aber er konnte das Versprechen nicht einlösen – zu wenig Geld. Es reichte nur für ein weißes Stirnband.
Träume sind alles, was wir haben, sagt der Vater. Und Samia hat einen Traum. Ich will die schnellste Frau der Welt werden, sagt seine Tochter mit naiver Unbeirrbarkeit, schon als ganz kleines Mädchen. Und sie kämpft dafür. Aus unerfüllten Träumen, aus unerreichten Zielen besteht das kurze, reale Leben der Samia Yusuf Omar, die 1991 in Mogadischu geboren wurde und im Mittelmeer ertrunken ist, am 2. April 2012.
Erzählt wurde dieses Leben in einer Graphic Novel von Reinhard Kleist, „Der Traum von Olympia“, und einem Roman des Journalisten Giuseppe Catozzella, „Mit Träumen im Herzen“. Und nun hat auch Yasemin Samdereli die Geschichte adaptiert, in ihrem neuen Film „Samia“.
Der Vater Yusuf bleibt auf seinen Träumen sitzen, er wird depressiv, nicht mehr bereit, sich aufzurappeln. Er hat bei einem Terroranschlag ein Bein verloren. Es herrscht Bürgerkrieg in Somalia. Auch Samia leidet unter den fundamentalistischen Milizen in Somalia, jungen Burschen, die den Frauen böswillig Sport, Bewegung, Frohsinn verbieten, ihnen den Schleier aufzwingen, Samia auf den Straßen schikanieren oder nachts, wenn sie heimlich trainiert.
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Auch Mohammed ist oft gelaufen, heißt es einmal vom Propheten, gemeinsam mit seiner Frau Aisha. Ich will auch ein Junge sein, sagt Samia, die kriegen immer alles. Die schnellste Frau der Welt werden … In Peking ist sie die einzige Sportlerin aus Somalia, sie tritt im 200m-Vorlauf an und scheidet aus, als letzte. Bei den Olympischen Spielen in London 2012 will sie es erneut versuchen. Sie flieht aus der Stadt durch die Wüste, fällt Schleppern in die Hände – nun muss sie laufen um ihr Leben –, wird in einem libyschen Gefängnis erpresst. Sie ertrinkt, als sie auf einem Flüchtlingsboot das Mittelmeer überqueren will.
Die Filmemacherin Yasemin Samdereli hat mit ihrer Schwester Nesrin und Giuseppe Catozzella das Drehbuch geschrieben. Mit ihrem Film „Almanya – Willkommen in Deutschland“ hatten die Schwestern 2011 großen Erfolg in den Kinos. Auch „Samia“ ist wieder ein Familienfilm, zwischen Eigensinn und Sticheleien, Entsagung und Solidarität.
Träume haben hier eine tückische Doppeldeutigkeit
Der kleine Nachbarjunge Ali wird Samias Trainer, trotz eher dubioser Qualifikation. Er hat bei einem Stadtlauf mitgemacht, wollte schummeln und eine Abkürzung nehmen und blieb in einer schlammigen Gasse stecken – neidappt nennt man das in Bayern –, nun wird er mit Spott überschüttet. Wenn er mit der Freundin in die Schule rennt, ist Samia schneller, obwohl sie später losrennt.

Später bringt Ali die von ihm betreute Athletin zum Start des nächsten Stadtlaufs in seinem „Ferrari“ – einer wackligen Schubkarre. Und Samia gewinnt. Träume sind alles, was wir haben … der Satz hat eine tückische Doppeldeutigkeit. Wie gut die Läuferin Samia ist, innerhalb der internationalen Konkurrenz, will der Film nicht wissen, auch nicht, ob der Traum irgendwann in eine Obsession umschlagen könnte.
Dafür lässt er in seiner Inszenierung spüren, was die Freiheit des Laufens ausmacht, ein Erlebnis, das in der auf sekundenkurzen Sprints konzentrierten Form der Wettkämpfe in den Stadien verloren geht. Wenn die junge Samia durch die Straßen und Gassen der Stadt rennt, um Ecken biegt und an den anderen Menschen vorbei, dann ist da eine Lust an der Bewegung, ein Durchqueren von Raum und Zeit, aus der das Kino geboren wurde, lange bevor es zu erzählen begann.
Samia, D/I/Belgien 2024 – Regie: Yasemin Samdereli. Buch: Nesrin Samdereli, Yasemin Samdereli, Giuseppe Catozzella . Kamera: Florian Berutti. Schnitt: Mechthild Barth, Senastian Bonde. Musik: Rodrigo D’Erasmo. Mit : Ilham Mohamed Osman, Elmi Rashid Elmi, Riyan Roble, Zakaria Mohammed, Fatah Ghedi. Weltkino, 103 Minuten. Kinostart: 19. September 2024.