Süddeutsche Zeitung

Premiere Salzburger Festspiele:Vom Affen zum Pflegeroboter

Thorsten Lensing inszeniert in Salzburg "Verrückt nach Trost". Das Star-Ensemble spielt Tiere und Kinder - und das ganz grandios.

Von Christine Dössel

Thorsten Lensing ist ein Solitär unter den Regisseuren, ein Einzelgänger, der frei arbeitet, unabhängig vom deutschen Stadttheater. Wenn er alle paar Jahre, mit viel Zeit und Akribie, eine neue Inszenierung macht, dann trommelt er dafür Schauspieler und Schauspielerinnen seines Vertrauens zusammen, nicht irgendwelche, sondern erstklassige müssen es bei ihm schon sein - den Kern bilden seit vielen Jahren dieselben -, und arbeitet mit ihnen an einem Theater der Unmittelbarkeit. Meistens ist das dann ein großer Erfolg wie "Die Brüder Karamasow" (2014) nach Dostojewski oder die zum Berliner Theatertreffen eingeladene Adaption "Unendlicher Spaß" (2018) nach dem Roman von David Foster Wallace. Die theaterguruhafte Genieverdachts-Aura, die ihn und seine Arbeiten umweht, nährt der Regisseur, indem er sich rar macht und seine Schauspieler auf den Thron hebt, die er offenbar mehr zum Spiel befreit, als dass er sie befehligt und dirigiert. Sie danken es ihm mit Treue und bedingungslosem Einsatz.

Jetzt hat Lensing wieder getrommelt - und für vier seiner Lieblingsschauspieler erstmals selber ein Stück geschrieben: Ursina Lardi, Devid Striesow, Sebastian Blomberg und André Jung sind die formidablen Protagonisten in "Verrückt nach Trost", uraufgeführt bei den Salzburger Festspielen in der Universität Mozarteum (denn das Landestheater wird renoviert). Die lose zusammenhängende Szenenfolge ist eine Koproduktion mit den Sophiensälen in Berlin, Kampnagel Hamburg und fünf weiteren Theatern. Es geht darin um keine geringen Fragen. Woher wir kommen. Was uns als Menschen ausmacht. Warum wir so sind, wie wir sind. All sowas.

Ein Stück mit psychologisch ausgefeilten Charakteren und einem stringenten Handlungsverlauf darf man hier nicht erwarten, auch wenn der Anfang noch den Eindruck erweckt. Es beginnt mit den Geschwistern Charlotte und Felix, zehn und elf Jahre alt, gespielt von Ursina Lardi und Devid Striesow mit kindisch-kindlicher Aufgekratztheit, sie immer eine Spur klüger, vernünftiger, er ein rotbackiger Kobold. Sie sind am Meer, an dem Strand, an dem sie früher mit ihren Eltern waren. Doch die sind gestorben, und jetzt machen die Kinder sie lebendig, spielen Mama und Papa nach: Wie die beiden, ein offenbar tolles Paar, sich gegenseitig eincremen, massieren und necken, wie er ihren "Arsch" rühmt und sie ihm die Zehennägel schneidet. Und wie sie über den Sohn sagen: "Optisch reißt der nichts." Womit der heiter-melancholische Grundton des Abends gesetzt wäre: Immer ist oder droht da irgendwo der Tod, und immer kommt Lensings Theater ihm mit Zärtlichkeit und Komik bei. Das ist anfangs noch ein bisschen albern, rührt einen aber zunehmend an.

Was Lensing macht, ist Theater pur: so tun als ob

Es ist Charlotte, also Lardi, die aus dem Kinderspiel aussteigt mit einem endgültigen "Ich will nicht mehr." Was gleichbedeutend ist mit dem Erwachsenwerden, denn: "Ohne Eltern sind wir auch keine Kinder mehr." So etwas wie Trost müssen sie sich nun anderswo suchen, es wird immer in der Begegnung mit einem Gegenüber sein, sei es Mensch oder Tier. Der dreieinhalbstündige - auch gefühlt nicht kurze - Abend erzählt davon in episodenhafter Abfolge, die anfangs noch allzu sehr einen Nummerncharakter und daher etwas Beliebiges hat. Man muss erst mal warm werden damit. Gespielt wird, wie immer bei Lensing, in einem abstrakten Raum ohne viel Beiwerk. Dahinein haben die Architekten Gordian Blumenthal und Ramun Capaul eine riesige, die ganze Bühnenbreite füllende Stahlwalze gebaut. Ein kaltes, abweisendes Ding, das einen sofort von Gaspipelines albträumen lässt. Eher ein Hinderniswall für das Ensemble. Aber für diese Top-Schauspieler natürlich kein Problem. Ohnehin ist hier alles darauf ausgelegt, dass sie es sind, die glänzen. Dass sie es sind, die im Kopf Bilder und Räume erstehen lassen. Was Lensing macht, ist Theater pur. Ganz einfach und ursprünglich: sich eine Rolle anverwandeln. Etwas behaupten. So wie Kinder spielen. So tun als ob.

Daher auch die Tierrollen in dem Stück. Sie sind grandioses Schauspielerfutter. Sie bringen aber auch eine andere Perspektive und dadurch einen ganz eigenen Zauber ins Spiel. Großartig, wie André Jung als (stummer) Orang-Utan allein durch seinen stieren Blick und seine Affengestik eine andere existenzielle Dimension aufmacht. Wer bräuchte da ein Affenkostüm! Und wenn Sebastian Blomberg als wackelköpfige Schildkröte auf allen Vieren langsam über die Bühne kriecht, zieht er damit auch dem Stück eine weitere (Lebe-)Wesensspur ein. Ursina Lardis Charlotte, die erklärte Einzelkämpferin, wird sich schließlich mit gelenkig-graziler Arm- und Beinarbeit in einen sprechenden Oktopus verwandeln, ein ganz besonders intelligentes Tier und bei Lardi auch besonders bezaubernd. "Neun Gehirne, acht Arme, drei Herzen", und trotzdem nicht glücklich. Und nach vier Jahren schon tot.

Für die Schauspieler reiht sich eine Steilvorlage an die andere

In "Verrückt nach Trost" passieren lauter absurde Dinge, weil das Stück mehr der Logik eines Traumes als einer dramatischen Narration folgt. Es werden einige Szenen auch tatsächlich als Träume deklariert, so kann man noch mehr herumspinnen. Die Tiere sind Geschöpfe daraus, aber zum Beispiel auch das brabblende Baby, das Devid Striesow mit unnachahmlicher Rosigkeit unter seinem Kapuzenbadetuch hingiggelt. Bis er schließlich schreit wie am Spieß, während Ursina Lardi und Sebastin Blomberg ein kaltschnäuziges Paar im Zoff spielen, das den Kleinen total vernachlässigt.

So reiht sich eine Steilvorlage für die Schauspieler an die andere. Sebastian Blomberg glänzt als vom Lebenslärm geplagter Taucher mit suizidalen Anwandlungen und bringt das Publikum mit Ehefrauenwitzen zum Lachen, von denen man dachte, die gehen nicht mehr ("Meine Frau hat vergessen, mich zu verlassen"). Er kommt dann sehr schön mit dem Oktopus ins Gespräch und würde sich gerne von ihm töten lassen. Der ambitiöse Text ist bei aller handfesten Komik - flotte Sprüche, blühende Neurosen - ein extrem anspielungs- und beziehungsreiches Gespinst. Fäden, die im ersten Teil ausgelegt werden, werden später wieder aufgegrifffen. So begegnen wir dann auch Felix (Striesow) wieder, der seit dem Tod der Eltern fühllos ist, aber sehr gut küsst und die besten Sätze hat ("Ich konnte als Kind Gott spüren wie Wetter"). Er hat eine Beziehung mit einem einfühlsamen Mann, gespielt von André Jung, dem er in einem berückenden Monolog verschiedene Wetterlagen wie ein Gedicht hersagt.

Ohnehin verdichtet sich der Abend im zweiten Teil, menschlich wie dialogisch, und wirkt dann nicht mehr bloß wie der rote Teppich für die Kunstfertigkeit seiner Protagonisten. In der Schlussszene ist Ursina Lardi wieder Charlotte. Nun aber behauptete 88 Jahre alt. Sie thront auf einem Hochsitz nah an der Rampe, ganz bei sich, friedlich und klar. An ihrer Seite: ihr sie küssender, komplett auf ihr Glück bedachter Pfleger - ein Roboter in der allermenschlichsten Gestalt von André Jung. Den man in seiner Zauberhaftigkeit sofort buchen möchte. Empathie ist nun im Raum. Und Trost: "Alle werden erlöst", verpricht Lardi mit Blick ins Publikum.

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