Süddeutsche Zeitung

Salzburger Festspiele:Mozart und die Fridays for Future

Mozarts erste große Meisteroper "Idomeneo" gerät zur umjubelten Eröffnungspremiere der Salzburger Festspiele. Und das, obwohl dem Stück alles Liebliche gründlich ausgetrieben wurde.

Von Reinhard J. Brembeck, Salzburg

Arien sind eine einsame Sache. Da steht eine Sängerin, ein Sänger auf der Bühne und verbreitet sich ausgiebig über Gefühle. Handlung Fehlanzeige. Wenn das nicht nach allen Regeln der Belcanto-Kunst, stilgerecht und stimmlich betörend klingt, dann ist das schnell eine fade Angelegenheit. Zumal die Zahl der fantasiebegabten Ausnahmesänger schon immer überschaubar war und ist.

In Wolfgang Amadeus Mozarts Familien- und Sohnesopferdrama "Idomeneo", der 24-Jährige schrieb seine erste große Meisteroper für München, gibt es fünfzehn Arien und somit fünfzehn Mal Gelegenheit zu Ödnis. Dirigent Teodor Currentzis und Regisseur Peter Sellars haben für die Eröffnungspremiere der Salzburger Festspiele nicht nur den Großteil aller rezitierenden Sprechgesangspassagen, sondern auch ein Drittel der Arien gestrichen, allerdings das so gut wie unbekannte, hinreißende und vor Schmerz nur so triefende Rondo KV 505, ein orchesterbegleitetes Duett für Hammerklavier und Sopran, eingefügt. Allerdings ist dies nicht der einzige Grund dafür, dass der Abend in keinem Moment öde ist.

Der Abend ist auch ein Appell an die Menschheit, mit ihrer Selbstzerstörung aufzuhören

Denn Peter Sellars, dieser Ausnahmeregisseur ist das wandelnde schlechte Weltgewissen der Opernszene, verwandelt von Anfang an jede Arie in eine Ensembleszene. Immer sind die Arien bei ihm Erklärungen an die Mitspieler und die Menschheit. Zu Beginn werden Kriegsgefangene in roten Tarnanzügen, es sind die Verlierer des Trojakriegs, von den griechischen Siegern in blauen Tarnanzügen auf die riesige Bühne der Felsenreitschule gescheucht. Dann wird Ilia verhört. Sie erzählt von ihrem Herrschervater Priamos, von dessen und ihrer Brüder Tod, von ihrer Liebe zum Siegersohn Idamante. Diese Liebe hat sie mit verheerender Wucht überfallen, Widerstand zwecklos. Ying Fang mischt Verzweiflung und Liebespein, sie atmet ihr Unglück-Glück in hohen feinen Linien.

Paula Murrihy gibt den für einen Kastraten geschrieben Prinzen Idamante herb, scheu und zunehmend aller Lebenssicherheit beraubt. Nicht nur, weil sich Idamante seinerseits in die Feindin Ilia verliebt, aber eine geliebte Frau hat, sondern auch, weil sein Vater Idomeneo, Herrscher in Kreta, Murks gebaut hat. In höchster Seenot hat dieser kleinliche, egoistische Politiker gelobt, im Fall seiner Rettung den ersten Menschen zu opfern, dem er an Land begegnet. Der dann sein Sohn Idamante ist, den er natürlich nicht opfern will. Russell Thomas als Titelheld läuft deshalb sorgenbedrückt auf der Bühne herum, der Täter als ein bemitleidenswertes Opfer.

Hier spielt viel Archaisches und Religiöses hinein, so die unerträgliche Geschichte der versuchten Opferung Isaaks durch Abraham. Doch das interessiert Sellars weniger. Er übersetzt die archaische Idee des Kindesopfers ins Heute. Er zeigt Idomeneo als Vertreter der herrschenden Politiker- und Vätergeneration, die für das eigene bequeme Leben bereit ist, selbst das liebste Kind zu opfern. Zudem tut Idomeneo sein Opfergelübde in einer Naturkatastrophe, die heute zunehmend als von Menschen verursacht verstanden wird.

Schon bei Mozart werden die Folgen von Überheblichkeit, Hass und Krieg klar benannt: Sie zerstören alle menschliche Bindungen, sie machen das Zusammenleben unmöglich. Aber schon Mozart stemmt sich gegen diese Zerstörung. Wenn zuletzt eine göttliche Stimme Idomeneo von seinem Königsamt und damit von seinem Gelübde entbindet, dann geschieht das im Namen der Liebe: "Ha vinto Amore - Gesiegt hat die Liebe". Der Liebesgott ist schließlich jener Gott, gegen dessen Richtspruch kein Einspruch möglich ist.

Sellars nimmt diese Gedanken wörtlich ernst. Liebe ist das beherrschende Thema des "Idomeneo", und Liebe heißt für ihn Teamarbeit. Deshalb ist kein Sänger bei seinen Arien allein auf der Bühne. Zudem bringt Sellars, das ist typisch für ihn, die ganze Welt auf die Bühne: eine Chinesin, zwei Schwarze, einen Neuseeländer, eine Irin, eine US-Amerikanerin, eine Tänzerin aus Honolulu, einen Tänzer aus Ozeanien.

Der Dirigent Teodor Currentzis stammt aus Athen, lebt in Russland und macht in Zentraleuropa die spektakulärste Musikerkarriere seit Karajan. Sein "musicAetera"-Chor aus Perm - ein Bravo auf dessen Leiter, Vitaly Polonsky! - ist der beste der Welt, er kann Wucht und Feinheit, er ist schnell, sehnsüchtig und rätselhaft: Allein die eingeschobene Chorarie aus Mozarts fast nie zu hörendem "Thamos" kommt einem Wunder ziemlich nahe.

So wird dieser Abend schon durch die Besetzung zu einem Appell an die Menschheit, mit ihrem selbstzerstörerischen Tun aufzuhören und umzudenken. Das geht weit über das übliche Operngeschäft hinaus. Genau das ist jedoch schon der Subtext des "Idomeneo"-Libretto, das wie jedes Libretto des aufklärerischen 18. Jahrhunderts auf Umsturz, Neuanfang und die Umwertung aller fragwürdig gewordenen Werte abzielt. Am deutlichsten macht das Levy Sekgapane als Idomeneos Chefberater. Er darf zwar keine seiner beiden Arien singen, aber sein großer, vom Orchester begleiteter Sprechgesang ist ein verzweifelt heftiger Aufruf im Sinne der Fridays-for-Future-Jugendbewegung.

Mozart weiß in der Figur der Elettra allerdings auch, dass Liebe und Umdenken furchtbares Leid bedeuten können. Elettra und Idamante sind so lange glücklich, bis Ilia daherkommt und er seiner alten Geliebten darum die Liebe entzieht. Sellars zeigt, wie lange Idamante zwischen seinen beiden Frauen hin und her schwankt, wie unsicher er ist, wem seine Liebe gilt. Und Nicole Chevaliers Elettra macht einen Höllenritt der Gefühle durch. Ihre Stimme ist so klar wie ihre zu den Extremen neigenden Gefühle. Sie kann verliebt zwitschern. Als zuletzt abgewiesene Liebhaberin aber legt sie eine furiose Hassszene hin, die das Publikum begeistert goutiert. Dann bricht sie zusammen und liegt als sichtbares Opfer, quasi als Ersatz für den nicht gemordeten Idamante, während des langen Finalballetts auf der Bühne, in dem Brittne Mahealani Fuimaono und Arikitau Tentau tänzerisch zeigen, wie mühelos überraschend das Crossover zwischen Mozarts München und dem Pazifik heute funktionieren kann. Aber das Opfer ist gebracht und liegt als Menetekel dafür da, dass kein Fortschritt ohne schmerzliche, auch brutale Einschnitte zu haben ist.

Genauso dirigiert auch Teodor Currentzis das fabelhafte Freiburger Barockorchester, das sich in jedem Takt erneut übertrifft. Alle Musiker, die Cellisten ausgenommen, stehen beim Spielen, und die so gewonnene Freiheit ist hörbar. Currentzis tanzt die Partitur gewissermaßen, seine rastlosen Hände wühlen die Abgründe aus ihr heraus, bedeuten die Unbedingtheit des Eros wie alle Schmerzen und alle Freuden, die trotzdem über die Menschen auf der Bühne hereinbrechen. Currentzis ist der grandiose Erbe der beiden wegweisenden Mozartdirigenten der letzten Jahrzehnte. Er verbindet die Leichtigkeit und Eleganz John Eliot Gardiners mit der herben, existenziellen Nachdrücklichkeit Nikolaus Harnoncourts. Er amalgamiert beider Ansätze und treibt sie zudem noch in Extreme weiter. Kein Wunder, dass dieser derart und unbedingt als Zeitgenosse dirigierte Mozart mache Zuhörer erschreckt. Hier hat sich alles Liebliche mozartausgekugelt.

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SZ vom 29.07.2019/edi
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