Süddeutsche Zeitung

Salzburger Festspiele 2022:Weltliche Höhenflüge

Die "Ouverture spirituelle" bei den Salzburger Festspielen sorgt für ganz irdische Glücksmomente.

Von Wolfgang Schreiber

Nicht der barocke Dom, Mozarts Geburtshaus ist der Salzburger Wallfahrtsort in der engen, von Touristen so geliebten Getreidegasse. Doch schlimm genug: Mozart, das Weltwunder der Musik, lernte das schöne Salzburg hassen. Weil Erzbischof und Fürst Colloredo seinen Musikbediensteten wie einen Lakaien schuhriegelte, ihn nach Wien vertrieb. Imperiale Religiosität dieser Art war Mozart zuwider.

Da hat es einen mozartbitteren Beigeschmack, dass die Salzburger Festspiele ihre einwöchige "Ouverture" scheinbar fromm "spirituell" nennen, um so die Verbrüderung musikalischer Welt- und Geistlichkeit gehörig zu feiern. Markus Hinterhäuser, der in Italien geborene Intendant als Programmkünstler, macht daraus aber alles andere als ein devotes Vorspiel. Die "Leit- und Leidmotive dieses Festspielsommers" sind für ihn, in Anbetracht von Dante Alighieris kürzlich gefeierter "Divina Commedia", die ewigen Lebensstationen "Himmel, Hölle und Fegefeuer". Hofmannsthals Salzburger Großes Welttheater, das Mysterienspiel seligen Angedenkens, lässt in aller Bescheidenheit grüßen.

In der imposanten barocken Kollegienkirche bleiben Krieg und Gewalt gegenwärtig

Für den Anspruch stand zu Beginn die große 13. Symphonie "Babi Jar" Dmitri Schostakowitschs. Der richtige Ort für die Ouverture spirituelle ist allerdings, gleich gegenüber Mozarts Geburtshaus, die imposante barocke Kollegienkirche. Auch dort bleiben Krieg und Gewalt jetzt gegenwärtig. Im Gedenken an den Genozid von 1915/16 an seinem Volk hat der armenische Komponist Tigran Mansurian sein lateinisches Requiem komponiert, eine sperrig-sanfte, sogar schöne Musik elegischen Protests, mit strenger Anteilnahme musiziert vom Arnold-Schönberg-Chor und Streichern der Camerata Salzburg, dirigiert von Titus Engel.

Mansurians Requiem folgte auf das glühende Poème "Guai ai gelidi mostri" von dem Venezianer Luigi Nono, insgeheim dem Stimmführer der Ouverture. Zwei Altstimmen machen, begleitet von vier Bläsern und drei tiefen Streichern vom Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling, in live-elektronischer Intensivierung deutlich, was es mit dem Horrortitel auf sich hat: "Wehe den kalten Ungeheuern", in Gluthitze. Textfragmente von Nietzsche, Lukrez, Ovid, Rilke oder Gottfried Benn geistern wallend durch den sakralen Raum. Pianissimo-fahl brütende Tonflächen, von instrumentalen Signalen angespitzt, lassen erst dann richtig erschauern, wenn urplötzlich, und nur zwei Mal, schärfste Klangblitze und brutales Tutti-Donnern dazwischenfahren. Da können in der vollbesetzten Kollegienkirche Angst und Schrecken sich ausbreiten. Komitas Vardapet hieß der Priester und Komponist vor rund einhundert Jahren, der die einstimmigen Gesänge altarmenischer Liturgie erneuerte. Die Sopranistin und Dirigentin Anahit Papayan führte das Geghard Vocal Ensemble an. "In Tyrannos" stand über dem Konzert geschrieben.

"Hiob" hieß das nächste. Gija Kantscheli, der in Tiflis geborene Komponist, hat 1994 den fünfsätzigen Liedzyklus "Exil" für Sopran, Instrumente und Tonband geschrieben - die Verbindung eines jüdischen Psalms aus dem Alten Testament mit der Lyrik zweier von den Nationalsozialisten verfolgter Dichter. Den Zusammenbruch der Sowjetunion hatte der Komponist fern von Georgien erlebt, in Berlin, er kehrte nur gelegentlich dorthin zurück. Der Sopranistin Anna Prohaska gelang es, den 23. Psalm "Der Herr ist mein Hirte" mit langen Vokalisen in äußerst ruhigem Zeitmaß, mit gedehnten Pausen, die Stille von Kantschelis Imaginationen gegenwärtig zu machen. Das Instrumentalsextett, darin die Flöten von Roy Amotz, die Viola von Amihai Grosz, das Violoncello von Nicolas Altstaedt und die Geige von Patricia Kopatchinskaja, setzte dazu stockende Klänge im Minimalismusstil.

Anna Prohaska und ihre Instrumentalisten steigerten die Aussagen der Verlassenheit und Ausgrenzung durch drei vertonte Gedichte von Paul Celan, dem traumatisierten deutsch-jüdischen Dichter aus Czernowitz in der Bukowina, der heutigen Ukraine, der sich später in Paris das Leben nahm. Prohaskas vokale Kunstfertigkeit und ihre Kraft der Verinnerlichung beeindruckten hier zutiefst. Es gab dazu ein langes "Nachspiel": die Aufführung der mehr als 400 Jahre davor entstandenen "Sacrae lectiones ex propheta Iob" des alten Meisters Orlando di Lasso, dargeboten von The Tallis Scholars unter Peter Phillips.

Programme so zusammenzubauen, dass sich Erkenntnisse ergeben, ist große Kunst

In den von Markus Hinterhäuser entworfenen "spirituellen" Ouverture-Dunstkreis fügten sich noch ganz andere Reminiszenzen, beispielsweise das Oratorium "Abramo ed Isacco" des böhmischen Komponisten und Mozart-Zeitgenossen Josef Myslivecek, realisiert vom Collegium Vocale und Collegium 1704 unter Vaclav Luks. Für Artur Honeggers Dramatisches Oratorium "Jeanne d'Arc au bucher" engagierte sich in der Felsenreitschule das SWR-Symphonieorchester unter Maxime Pascal, dort ersetzten Irène Jacob und Jerome Kircher die ursprünglich angesagten Sprechsolisten Isabelle Huppert und André Jung.

Programme und ihre Musiken zusammenbauen, Komponisten und ihre Stücke, ihre Formen und Aussagen, ihre Stile und Epochen mit den besten Interpretinnen und Interpreten dergestalt mischen, dass zu Harmonien Reibungsflächen entstehen, Erkenntnisse, Überraschungen, Glücksmomente - das ist große Kunst. Markus Hinterhäuser hat sie in Salzburg vor drei Jahrzehnten mit dem Konzertportal "Zeitfluss" erprobt. Hat jetzt zum Beispiel die Komponisten Wolfgang Rihm und Joseph Haydn miteinander verbunden. "Vigilia" für sechs Stimmen und Ensemble, Rihms einstündiger Karwochenzyklus in der Abfolge von sieben Motetten und Sonaten, mit einem langen "Miserere" als krönendem Abschluss, ist eine eminent konstruktive, in polyphoner Dichte mit spiritueller Bedeutung aufgeladene Musik. Sie gemahnt an Gesualdos vokal-abenteuerliche Hochspannungen, sie verlangt dem Hörer radikale Wachheit ab. Mit Erfolg: Cantando Admont und das Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling meisterten "Vigilia" mit Bravour. Das Hagen Quartett spielte dann Joseph Haydns "Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze", die monumental tiefgründigen sieben Adagio-Bekenntnisse. Wolfgang Rihm, von schwerer Krankheit nicht bezwungen, wurde in der Kollegienkirche hingebungsvoll gefeiert.

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