Salzburger Festspiele:Schreie der Verzweiflung

Intolleranza 1960 | 2021

In permanenter Bewegung geben Chor und Tänzer auf der Bühne Nonos Pulsieren wieder.

(Foto: SF / Maarten Vanden Abeele)

Luigi Nonos szenische Aktion "Intolleranza 1960" rüttelt die Salzburger Festspiele auf.

Von Egbert Tholl

Wen das nicht ergreift, der hat kein Herz. Und auch kein Hirn. Luigi Nonos "Intolleranza 1960" wird bei den Salzburger Festspielen zu einem Schrei aus hundert Kehlen, zu einer Explosion der Wut, Entrüstung und Verzweiflung. Äußerster Lärm und bitterste Süße künden von dem, was der Mensch sein könnte, was er aber selten ist. Die achtzig Minuten dieser "szenischen Aktion" erzählen von Folter, Flucht, Ausbeutung und Gewalt, von Unterdrückung und vom Kampf gegen all dies. Ist die Aufführung zu Ende, haben die Taliban Kabul überrollt. Nono endet mit dem von Brecht entlehnten Gedanken, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sei. Die Realität ist dagegen.

Aber ist die Kunst in ihrer Anklage deshalb machtlos? Unmittelbar ja, aber in ihrer weiteren Wirkung nicht, daran muss man glauben, sonst ist alles sinnlos. 1961 trotzte Nono bei der Uraufführung der "Intolleranza" bei der Biennale in Venedig allen Widerständen, wovon auch eine Ausstellung in den Festspielhäusern kündet. In den Fünfziger Jahren fing Nono an, nach Expression und Gehalt in der Musik zu suchen, wandte sich gegen L'art-pour-l'art-Denken und rein ästhetische Pfriemeleien. "Intolleranza" ist die Kulmination hiervon, in die Nono auch Partikel früherer Arbeiten aufnahm. Aus diversen Quellen, darunter Berichte von Folter unter den Nazis, Verhöre im Algerienkrieg und politische Parolen, Hinweise auf reale Unglücke wie die Überschwemmung des Po in Italien oder ein Bergwerksunglück in Belgien, baute er den Text. Dieser braucht den Hinweis auf die Realität nur insofern, als er so als Notwendigkeit legitimiert und keine künstlerische Spinnerei ist. Aber auch kein Dokudrama. Deshalb schlägt "Intolleranza" auch heute ein.

Das Bindeglied zwischen den einzelnen Bildern ist ein Geflüchteter, der zu Beginn in der kapitalistischen Ausbeutungsmaschinerie eines Bergwerks arbeitet, sich nach der Heimat sehnt, sich der emotionalen Erpressung durch die "Frau" entzieht und auf den Weg macht. Er gerät in eine Friedensdemonstration, wird festgenommen, gefoltert, kommt in ein Konzentrationslager, flieht, findet eine neue Gefährtin. Am Ende tritt der Fluss über die Ufer und schwemmt alles weg.

Mit Nonos politischem Furor gewinnt Lauwers neue Kraft

Eine Basis von Nonos Komposition sind Tonreihen, die er ausgehend von einem Grundton nach oben und unten aufspannt und wieder zusammenführt; dieses Prinzip findet sich, dann allerdings viel überfallartiger, auch in der Behandlung der Dynamik wieder. Dieses Pulsieren, und das ist absolut verblüffend, erfährt nun seine Entsprechung in der Inszenierung. Da muss man kurz ausholen. Der Regisseur Jan Lauwers gründete 1986 die Performancegruppe "Needcompany", inszenierte 2018 bei den Salzburger Festspielen zum ersten Mal eine Oper (Monteverdis "L'incoronazione di Poppea") und spiegelte zuletzt mit seiner Truppe das Obsoletwerden der eigenen Künstlerexistenz als alter, weißer Mann wider. Mit Nonos politischem Furor gewinnt er nun neue Kraft, stellt eine Tanztruppe aus Mitgliedern von Bodhi Project und der Salzburg Experimental Academy of Dance auf die Bühne, dazu den Wiener Staatsopernchor und schafft so eine permanente Bewegung, die eben genau Nonos (harmonisches) Pulsieren wiedergibt. Und darüber hinaus hat diese Menschenmenge ihr eigenes Erzählen, diskutiert körperlich das Verhältnis von Individuum und Masse, kann sogar tatsächlich beklemmend Folterszenen darstellen. Ein Live-Video auf der porösen Steinwand der Felsenreitschule vergrößert, vervielfältigt das Geschehen, macht die Bewegung von oben sichtbar.

Die Menschen sind das Bühnenbild, das machte Lauwers so bei der "Poppea" und das hatte man diesen Sommer schon öfter in Salzburg, und der Klang ist der Raum, in dem sie sich bewegen. Links besetzen zwölf Trommler die Empore über der riesigen Bühne, rechts sind weitere Perkussionsgeräte platziert - grandioser Lärm umrahmt, wenn es nötig ist, das Geschehen. Der Chor, vor dessen entfesselter Präzision man niederknien muss, erklingt in zwei kurzen A-capella-Passagen als vorgefertigte Zuspielung im Surroundraumklang und in der Mitte, im hochgefahrenen Graben, spielen die begnadeten Wiener Philharmoniker mit höchster Emphase.

Dirigent Ingo Metzmacher hatte Nono noch persönlich kennengelernt, er kennt dessen Werk, das Markus Hinterhäuser, inzwischen Intendant der Salzburger Festspiele, in den Neunziger Jahren dort in der Reihe "Zeitfluss" zu etablieren begann, wie kaum jemand. Und er kann es dirigieren mit einem grandiosen Melos, das expressiv über jeden Bauplan hinwegträgt und die Wahrheit der allergrößten Emotionalität, selbst im zerbrechlichsten Leisen besitzt. In diesem so freien wie kontrollierten Tohuwabohu brillieren die paar Solisten, die es neben dem Chor braucht, der menschlich anrührende Sean Panikkar als Geflüchteter, die als Frau fast schon ikonisch agierende Anna Maria Chiuri, die fabelhafte Körper- und Stimmerscheinung Sarah Maria Sun, als Gefährtin mit rasender Expression von der Möglichkeit der Liebe kündend. Antonio Yang (als Algerier) und Musa Ngqungwana (ein Gefolteter) ergänzen das Solistenensemble in der Vielfarbigkeit, die Lauwers liebt. Zu Beginn kann man in Projektionen lesen, dass hier 167 Menschen für 1388 Zuschauer auftreten und aus mehr als 40 Ländern kommen. Man sollte ergänzen, dass bei den Wiener Philharmonikern acht Frauen mitspielen, eine immerhin als Konzertmeisterin.

An der Schaltstelle zwischen erstem und zweiten Teil setzt Nono die Musik aus, in der Uraufführung folgt eine Litanei alltäglichen Unsinns, hier spricht ein blinder Poet, Lauwers Sohn Victor Afung Lauwers. Er spricht von Flucht und Verfolgung, von Krieg und Zerstörung. Da bricht der Chor in Gelächter aus. In langes, qualvolles, jede Empathie, jedes Mitgefühl zynisch hinwegwischendes Gelächter. Das Saallicht geht an. Wir sind es, die da lachen. Kabul ist gefallen.

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