Süddeutsche Zeitung

Salzburger Festspiele:Ein Leben von "Everywoman"

"Gott, erbarme dich meiner": Milo Rau und Ursina Lardi entwickeln eine Gegenposition zum Salzburger "Jedermann". Eine ehemalige Statistin mit Bauchspeicheldrüsenkrebs wird zur Heldin eines letzten Abendmahls.

Von Egbert Tholl

Die Totenglocken läuten schon, wenn man die Szene Salzburg, das frühere Republic, betritt und seinen Platz im sehr ordentlich gehaltenen Schachbrett-Sitzplatzmuster sucht. Auf der Spielfläche steht ein recht alter Kassettenrekorder, aus dem die Glocken tönen, es gibt zwei Felsen, Findlinge, die, so steht es im Text, ein Gletscher zurückließ, als er sich beleidigt zurückzog. Und da steht ein Flügel, auf dem die Schauspielerin Ursina Lardi am Ende Ferruccio Busonis Klavier-Paraphrase des Bach-Chorals "Nun komm, der Heiden Heiland" spielen wird. Mehr gibt es nicht, "Everywoman", die zweite und letzte Schauspielpremiere der Salzburger Festspiele, ist eher karg.

Im Programmheft erzählt Milo Rau, Schweizer Essayist, Theatermacher und Erfinder viel Staub aufwirbelnder Riesenprojekte, dass er vor zwei Jahren erst einmal ablehnte, als ihn die Anfrage der Salzburger Festspiele nach einer Neufassung des "Jedermann" ereilte. Er hatte gerade den "Genter Altar" mit Menschen aus Gent nachgestellt, diesen Herbst soll noch sein Film "Das Neue Evangelium" mit einem schwarzen Jesus ins Kino kommen. Das reicht eigentlich als Beschäftigung mit Glaube und Mittelalter, nichts anderes ist ja Hofmannsthals "Jedermann". Doch Rau baut nicht nur mit großem politischen Aplomb und theatralischer Wirkmächtigkeit Realität nach, er hat auch immer wieder Sinn für etwas Kleines, Feines. Dann meist zusammen mit der Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi, die seit 2012 künstlerisch an der - hier koproduzierenden - Berliner Schaubühne beheimatet ist.

Nun machten sich Lardi und Rau also doch zusammen ans Nachdenken über einen weiblichen Jedermann, übers Theater an sich, unsere Welt und was darin alles falsch läuft. Für Lardi übrigens ist es schon Feminismus genug, dass der Jedermann hier nun eine Frau ist, dieser dampfende, schnell von der Angst vorm Sterben zerfressene Kraftlackl ohne Getön weiblich wird. Und: Wie kommt das eigentlich, dass wir so viel Angst vor dem Sterben haben, dem man ja nicht entrinnen kann?

Die Protagonistin hat die Prognosen ihrer Ärzte überlebt

Dann kam Corona, aber es ereignete sich auch ein Glücksfall: Bei ihren Recherchen stießen sie auf Helga Bedau, erkrankt an tödlichem Bauchspeicheldrüsenkrebs. Vielleicht fanden sie sie in einem Hospiz, vielleicht stimmt auch die Geschichte, die Lardi vorträgt: Sie erhielt einen Brief von Bedau, die vor vielen Jahren mal als Statistin Theater gespielt hatte und vor ihrem Tod noch einen Wunsch hatte, nämlich noch einmal auf der Bühne zu stehen. Das erfüllen ihr nun Rau und Lardi, indirekt zumindest, denn Frau Bedau ist im Video zu sehen, an einer Tafel, die ein letztes Abendmahl oder auch das Setting von Thomas Vinterbergs Film "Das Fest" sein könnte. Aber beim Schlussapplaus steht sie leibhaftig auf der Bühne. Helga Bedau hat die Prognose der Ärzte bezüglich der ihr verbleibenden Lebenszeit längst übertroffen.

Milo Raus Arbeit liegt, ähnlich der von Vinterberg, ein Manifest zu Grunde, das er für seine Intendanz am Theater in Gent entwickelt hat. Ein Punkt darin schreibt vor, dass nie nur Schauspieler auf der Bühne stehen dürfen, es müssen auch Laien dabei sein. Nun also tritt Lardi in Dialog mit Bedau im Video, verlässt einmal die Bühne und besucht sie im Video - technisch ist die Aufführung, wie stets bei Rau, von stupender Perfektion. Bei Bedau schauen weitere Statisten vorbei, doch meist sitzt sie ganz allein da, ganz warm, wird unendlich müde, während Lardi auf der Bühne sich ihre Biografie aneignet, diese erzählt.

Unspektakulär ist diese wie Lardis bequeme Kleidung und ihr klarer Vortrag. Und doch ein ganz eigenes Leben. 1967, Berlin, der Tod von Benno Ohnesorg, Bedau als Zeugin. Erinnerungen an den Vater, den die NSDAP aus ihren Reihen warf, an den Tod eines Rennpferds. An den Sohn, der zu seinen Erzeuger nach Griechenland geht und Bedau mit deren Mann in Deutschland lässt. Lardi breitet Familienfotos eines Lebens aus, das jede Frau geführt haben könnte. Es wirkt, als lausche die dämmernde Frau im Video ihrer eigenen Geschichte, es ist Theater, weil Lardi zu ihrer Stellvertreterin wird. In Momenten verschleifen sich die Leben, das von Lardi aus den Schweizer Bergen und das von Bedau aus Lünen. Und dann verschwindet alles wie in einem Nebel.

Ein Filmtitel leuchtet auf der Leinwand auf: "Gott sieht dich von seinem Thron recht gut." Und der Text verliert die Kontur, wird allgemein, raunt von einer Erlösung, die die Welt braucht. Vieles ist richtig, die Katastrophe nah, aber es ist so schrecklich viel Anliegen ohne Vermittlung. Bedau schläft, Lardi redet, ein bisschen Musik, 50 Jahre alt, aus dem Kassettenrekorder. Und man sehnt sich unendlich nach der Rückkehr der Frau im Video, nach einem Leben ohne Pamphlet. Dann erwacht Helga Bedau wieder, die Augen leuchtend klar. Sie spricht, ohne Angst: "Gott, erbarme dich meiner, in all deiner Allmacht." Ähnlich endet auch Hofmannsthal. Hier räumt Lardi noch die Bühne auf.

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SZ vom 21.08.2020
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