Süddeutsche Zeitung

Salzburger Festspiele:Kein Sex ist auch keine Lösung

Für Salzburg haben zehn Autoren Schnitzlers "Reigen" neu geschrieben, Yana Ross inszeniert auf der Höhe heutiger Debatten. Ist das annähernd so aufregend wie einst das Original?

Von Christiane Lutz

Als Arthur Schnitzlers "Reigen" 1920 in Berlin aufgeführt wurde, brach ein gewaltiger Theaterskandal los. Denn in den zehn immer gleich aufgebauten Szenen treffen jeweils ein Mann und eine Frau aufeinander, und es wird gevögelt was das Zeug hält. Soldaten mit jungen Mädchen, Angestellte mit Chefs, zartbesaitete Dichter mit Fans, immer schön die Leiter der Abhängigkeiten und sozialen Klassen rauf und runter. Obwohl Schnitzler den Akt selbst nur durch Pünktchen im Text andeutete, bekam das Publikum wegen der "Schweinerei" Schnappatmung. Welche Strukturen der Autor in dem Stück möglicherweise anprangerte, ging im Skandal unter. Schnitzler war das so unangenehm, dass er einen Aufführungsbann über das Stück legte, der bis 1982 anhielt.

Dass die eigentliche Debatte im Skandal untergeht, ist bei Yana Ross' Neuinszenierung des "Reigen" nach Arthur Schnitzler bei den Salzburger Festspielen nun nicht zu befürchten. Da gibt es kaum Aufregung, und, das wird jetzt nicht überraschen, fast keinen Sex, Zumindest keinen einvernehmlichen, sondern vor allem Debatte. Mit Sex an sich ist heute schockmäßig ohnehin nichts mehr zu holen, den "Reigen-Effekt" in die Gegenwart bringen zu wollen ist auch mit immer noch expliziterer Vögelei kaum möglich.

Yana Ross will den Skandal trotzdem - nur mit anderen Mitteln. Sie eliminiert den Sexmoment, möchte den Tabubruch aber beibehalten, indem sie die Strukturen hinter dem Sex sichtbar macht und neue Debatten einführt. Der Skandal liegt somit nicht im Sex, sondern in den Strukturen, in denen er stattfindet. Auf dass der Zuschauer doch ähnlich erschrocken zucken möge. Die Tabus: Vergewaltigung und anschließendes Victim-Blaming, Internet-Stalking, Homosexualität, Waffenbesitz, Klassismus, Frauen, deren Karrieren von windigen Typen abhängig sind. In einer der besten Szenen flippt eine erschöpfte Mutter aus und träumt sehr lebendig davon, ihre drei Kinder umzubringen: Regretting Motherhood.

Zehn Szenen, mühevoll zusammengeschraubt, ergeben noch kein stimmiges Bild

Zehn Autorinnen und Autoren haben für diesen "Reigen", eine Koproduktion mit dem Schauspiel Zürich, je eine der zehn Szenen umgeschrieben. Lydia Haider ist dabei, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo (von der die Mutterschafts-Szene stammt), Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, oder Lukas Bärfuss. Diese haben stilistisch und inhaltlich rein gar nichts miteinander zu tun, außer dass in ihnen jeweils eine Debatte verhandelt wird, tendenziell öfter aus der Perspektive von Frauen.

Dementsprechend hat Ross rein handwerklich ihre liebe Not, die Szenen auf der Bühne irgendwie in Verbindung zu setzen: Der Ort ist eine Art Restaurant im Siebzigerjahre-Stil, an der Bühnenrückwand eine schräg gehängte Spiegelwand, die dem Zuschauer alles doppelt zeigt. Ein Restaurant ist ein Ort des kultivierten Gesprächs, ein Ort des Flirts und der Begegnung. Aber auch Fassade, hinter der es oft düster aussieht. Allerdings ergibt der sehr hübsch anzusehende Raum (Bühne und Kostüm: Márton Ágh und Marysol del Castillo) bei der Hälfte der Szenen inhaltlich überhaupt keinen Sinn, weshalb sich Ross mit Videoeinspielungen behilft, mit seltsamen Übergangschoreografien zwischen den Szenen und mit dem ebenfalls wenig schlüssigen Auftrag an die Schauspieler, möglichst viel mit dem Tischgedeck zu hantieren. Eine lesbische Frau (Sibylle Canonica) schneidet also ihrer nicht geouteten lesbischen Liebhaberin (Tabita Johannes) ein Stück Fleisch aus dem Leib, andere frisieren sich mit der Gabel, ständig schenkt jemand Theatersekt in Plastikgläser ein. Es klappert viel, aber es hilft nichts: Die Inszenierung ist ein buntes Szenen-Sammelsurium.

Das ist das eine Problem. Das andere ist die Haltung hinter der Inszenierung. Natürlich muss man sich nicht darüber empören, dass in diesem "Reigen" außer dem aufmerksamkeitsversprechenden Namen praktisch kein Schnitzler mehr drin ist. Assoziatives Arbeiten mit Klassikern macht etwa auch Regisseurin Leonie Böhm seit Jahren sehr gut und erfolgreich, indem sie Stücke auf ihre Kernaussage reduziert und beherzt feministisch und mit sehr viel Humor neu inszeniert. Bei ihr aber wird der Klassiker durch ihren originellen Blick immer auch aufgewertet.

In Yana Ross' "Reigen" aber ist alles auffällig und ausschließlich von der potenziellen Debatte her gedacht. Nach dem Motto: Welche aktuellen Themen müssten dringend mal auf die Bühne? Lasst uns eine Liste machen! Dem daneben direkt subtilen Original gibt sie gar nicht erst die Chance, eben jene Debatten auch anzuregen, dabei liegen schon bei Schnitzler Klassismus, Sexismus, Unterdrückung der Frauen und soziale Abhängigkeit im Text.

Theater, das nur von der Debatte her denkt, ist noch langweiliger als Effekt-Theater

Das heißt nicht, dass die neuen Tabus nicht relevant sind und nicht auch ins Theater gehören. Es ist nur fraglich, ob es in der Kunst immer der schlauere Weg ist, alles wegzuradieren, was an Geschichten schon da ist und drüberzupinseln, vermeintlich Problematisches wie Sexszenen zu streichen, statt sie klug zu inszenieren, nur, um moralisch unbedingt auf der sicheren Seite zu stehen. Vor allem aber: Theater, das von der Debatte her gedacht ist, ist fast noch langweiliger als Theater, das vom Effekt herkommt. Kein Sex ist also auch keine Lösung.

Einzig zwei szenische Lichtblicke gibt es, wenn man sie herausgelöst aus dem müden Debatten-Reigen betrachtet: Jene erwähnte Szene über Regretting Motherhood, großartig geschrieben von Sharon Dodua Otoo, in der sich Lena Schwarz als wütende Mutter jeweils fünfminütige Time-Outs von ihrer Familie gönnt, um nicht komplett durchzudrehen: "Der Grund, warum ich Kinder habe, ist, weil in der Gynäkologen-Praxis keine Werbung für Abtreibung gemacht werden durfte." Sie trifft auf Yodit Tarikwa als kinderlose Karrierefrau, da entspinnt sich ein Moment echter Verzweiflung und echter Verbindung zwischen Frauen, die beide in verschiedenen Rollen gefangen sind.

Der andere Moment ist die grandiose Szene des russischen Autors Mikhail Durnenkov, der seinen Textbeitrag eigentlich schon fertig hatte, aber nach Beginn des russischen Angriffskriegs komplett aus dem Fenster warf und neu schrieb: ein simples Skype-Gespräch zwischen Mutter und Sohn, das die Zuschauer auf Video sehen. Darin erklärt ein Sohn (Valentin Novopolskij) seiner Mutter (Inga Mashkarina), beide Russen, warum diese "Spezialoperation" in der Ukraine ein Krieg ist, warum er das Land verlassen wird, warum sein schwuler Freund ruhig schwul sein darf. Die Mutter weint, sie schluchzt, er auch. In dieser Szene liegt aller Schmerz der Elternliebe, der Kinderliebe, liegen die nicht überbrückbaren Gräben zwischen Menschen und Das-sich-nicht-verstanden-Fühlen. Es ist ein Text, der sich nicht darum schert, ob jemand einvernehmlich Sex hatte oder nicht, der nicht von seinem möglichen Effekt her gedacht, und dem Schnitzler vollkommen wurscht ist. Einfach, weil er aus einer spürbaren persönlichen Dringlichkeit heraus entstanden ist. Das macht immer noch die aufregendste Kunst.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5630384
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/khil
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.