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Salzburger Ausstellung: Großes Welttheater:Eine ganze Stadt als Bühne

In der Landesausstellung "Großes Welttheater" blickt Salzburg auf hundert Jahre Festspiele. Eine gelungene Schau, die deren Geschichte zeigt, dabei den Dialog sucht und auf Teilhabe setzt.

Von Christine Dössel

Das Polyphon schaut aus wie ein alter Apothekerschrank, mit vielen kleinen Schubladen. Zieht man sie auf - Achtung: nur mit den dafür bereitgestellten Einweghandschuhen! -, dann ertönt aus jeder einzelnen ein Stück Salzburg, ein Klang, eine Stimme, eine Erinnerung an hundert Jahre Festspiele. Zum Beispiel aus der Schublade eins, oben links: "Jeeedermann!", schallt es knisternd aus dem Kästchen. Eine Aufnahme aus den Fünfzigerjahren mit dem berühmten Ruf des Todes in Hugo von Hofmannsthals Stück, das die Festspiele begründete. Oder das Schublädchen rechts unten: das Signalgeräusch, wenn der eiserne Vorhang im Festspielhaus herunterfährt. Dazwischen: Mozart, Thomas-Bernhard-Tiraden, Hörfundstücke aus Konzerten, Inszenierungen, Pressekonferenzen. Salzburg, wie es singt und klingt.

Geschaffen hat die Kasten-Kakofonie der Komponist Peter Androsch. Sie ist Teil der Landesausstellung "Großes Welttheater - 100 Jahre Salzburger Festspiele" im Salzburg-Museum in der Neuen Residenz, gleich hinterm Dom. Eine aufwendige, vielgestaltige Schau (1800 Quadratmeter Ausstellungsfläche) mit dem Ziel, dem Jubiläum in all seinen Facetten und Ansprüchen gerecht zu werden. Was aufgrund eines modernen, auf Dialog, Partizipation und Interaktion setzenden, die Festspielgeschichte "inszenierenden" Konzepts tatsächlich gelingt. Also: keine letztgültige Aufbereitung der Geschichte auf Schautafeln und in Vitrinen, sondern eine lebendige, multiperspektivische Erzählung unter Einbeziehung vieler mitgestaltender Menschen sowie allerhand filmischen, akustischen und visuellen Materials.

"Geschichte ist immer auch Konstruktion", sagt Martin Hochleitner, der Direktor des Museums, der die Ausstellung gemeinsam mit der Festspieldramaturgie-Leiterin Margarethe Lasinger nach diesem zeitgenössischen Ansatz kuratiert und dazu ein kluges, reichhaltiges Katalogbuch herausgegeben hat.

Im Klangraum 1.13 sitzt man wie im Raumschiff Enterprise vor einem Panoramafenster

Das eingangs beschriebene Polyphon befindet sich in einem Raum, der noch am ehesten dem klassischen, zahlen-, fakten- und dokumentenbasierten Ausstellungsprinzip entspricht: Die ehrwürdige Max-Gandolph-Bibliothek im Westflügel des Gebäudes wurde mit reichlich Material aus dem Archiv und aus dem Kostüm- und Requisitenfundus der Festspiele in eine gruftig-dunkle Wandelhalle der Dokumentation und Erinnerung umgestaltet. Linkerhand bilden schwarze Stellwände, beklebt mit Artikeln, Fotos und Plakaten, zehn Nischen - für jedes Festspiel-Jahrzehnt eine: von der Gründungsdekade über die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges bis in die coronale Gegenwart unter Festspielintendant Markus Hinterhäuser. Wobei in jeder Nische einschlägige Ereignisse vermerkt sind.

Skandale wie der um Thomas Bernhards Stück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" 1972 oder um Hans Neuenfels' ausgebuhte "Fledermaus" 2001. Auf kleinen Monitoren kommen wichtige Festspiel-Player zu Wort. Herbert von Karajan, der große Salzburg-Maestro der Sechziger- bis Achtzigerjahre; Gerard Mortier, der Erneuerer der Neunziger; Helga Rabl-Stadler, amtierende Präsidentin seit 1995.

Auf der anderen Seite des Bibliotheksraumes werden die zehn Dekaden buchstäblich objektiviert: 100 Objekte, ausgestellt in Vitrinen und an der Wand, erzählen von 100 Jahren Festspielkunst. Ein früher elektrischer Scheinwerfer, eine alte Inspizientenglocke, Dirigierpartituren von Karl Böhm, Herbert von Karajan, Riccardo Muti. Jedes Objekt steht stellvertretend für ein Jahr. Den Anfang macht das handlich kleine Regiebuch Max Reinhardts, mit dessen "Jedermann"-Inszenierung 1920 vor dem Dom alles begann. Die Vitrine von 1924 bleibt leer, weil damals die Festspiele ausfielen (weshalb es eigentlich erst 99 Jahre sind). Man braucht Zeit, all die Zeugnisse zu studieren, die Bühnenbildmodelle, Dokumente, Requisiten. Auch markante Kostüme sind darunter. Die glasperlenbesetzte Prachtrobe, die Edita Gruberová 1978 als Königin der Nacht trug. Oder das rote Kleid von Anna Netrebkos Sensations-Violetta in Verdis "La traviata" von 2005.

"Anschluss Österreichs" bedeutete für Max Reinhardt den Verlust von Heimat und Eigentum

Nach so viel Detailstudium wäre es anzuraten, sich zum Verschnaufen in den Klangraum 1.13 zu begeben, wo man wie im Raumschiff Enterprise vor einem Panoramafenster mit Blick ins Nichts sitzt und Ausschnitten aus drei Konzerten der Wiener Philharmoniker lauschen kann (Beethovens Neunte, Mahlers Vierte, Bruckners Zweite, dirigiert von Karajan, Boulez, Muti). Die Akustik ist grandios.

Aufführungen gibt es auch in der Kunsthalle im Untergeschoss des Museums, die in eine Bühne verwandelt wurde. Die Besucher können auf Tribünen Ausschnitte aus alten Festspielproduktionen anschauen. Aber auch Live-Programme und Workshops soll es hier geben. Im Raum davor hat der Schweizer Mats Staub im Rahmen seines Langzeitprojekts "Death and Birth in My Life" zwei Nischen eingerichtet, in denen man in Ruhe dessen für Salzburg entwickelte Videoinstallation verfolgen kann: Intime Zweiergespräche über den "Jedermann" und seine Todesthematik von Künstlern, die ihn gespielt haben - wie Cornelius Obonya und Tobias Moretti - oder sonst an Aufführungen beteiligt waren, wie Elisabeth Trissenaar, Hans Neuenfels, Peter Lohmeyer. Im Eingangsbereich der Kunsthalle findet sich die eindrucksvolle Kulisse der Felsenreitschule nachgebaut. Aus den steinernen Fensterbögen grüßen Puppen in exzentrischen Kostümen.

Die Stadt als Bühne, als Raum der Erfahrung und Teilhabe - das ist generell der Ansatz dieser installativen Schau. Sie folgt Reinhardts Maxime, dass ein Theaterstück erst im Austausch mit dem Publikum produktiv werden kann. Eine Nachstellung der "Jedermann"-Szenerie 1920 auf dem Domplatz mit Fototapete und Holzklappstühlen (auf denen man damals saß) begrüßt die Besucher gleich im Erdgeschoss. Dazu läuft eine ORF-Dokumentation über den historischen Kontext der Festspiele. Sie entstanden nach dem Ersten Weltkrieg als Vision eines europäischen Friedensprojektes im Namen der Kunst.

Sie wurden die weltgrößten ihrer Art. Ein Rundgang im ersten Stock führt in Räume, die zusammen mit dem Theatermuseum und dem Jüdischen Museum in Wien, dem Literaturarchiv Salzburg und einigen Künstlern gestaltet wurden. So widmet sich ein Raum mit Modellen nichtgebauter Festspielhäuser der Frage: Was wäre Salzburg ohne die Festspiele? Anders als in Bayreuth, wo das Festspielhaus über der Stadt auf dem Grünen Hügel thront, ist in Salzburg die ganze Stadt Bühne. Dass dabei seit je auch die Landschaft, das Gefühl der Sommerfrische und der immense Erfolg der Trachtenmode eine Rolle spielten (manch ein Künstler wünschte sich statt einer Gage eine Lederhose), wird ebenso thematisiert wie "Brüche" in der Geschichte der Festspiele, insbesondere durch den Nationalsozialismus und den "Anschluss" Österreichs 1938. Für Max Reinhardt, den Superstar der Festspiele, bedeutete dies, wie für viele jüdische Kollegen und Kolleginnen, den Verlust der künstlerischen Heimat und des Eigentums. Seit 1918 residierte er auf Schloss Leopoldskron, dessen traumhaft schöne Kulisse in einem Raum nachgebildet ist, flankiert von Zeugnissen der aufkommenden NS-Zeit. Reinhardt starb 1943 im New Yorker Exil.

Zu den fünf zeitgenössischen Künstlern, die sich ihren eigenen Reim auf die Festspiele machen, zählt der deutsche Materialschlachtenbummler John Bock, der den "Jedermann" in assoziative Versatzstücke zerlegt und zu einem bunten Lagerregalverhau neu zusammenfügt. Eine schöne Interpretation des Papageno aus der "Zauberflöte" bietet der in London lebende Yinka Shonibare in seiner kolonialismuskritischen Vogelhändlerskulptur: die Vögel alle aus den Käfigen befreit.

Wenn an diesem Samstag die Jubiläumsfestspiele beginnen, wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Unter dem Titel Corona.

Großes Welttheater - 100 Jahre Salzburger Festspiele: Salzburg-Museum. Bis 31. Oktober 2021. Katalog 480 S., 25 Euro.

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Quelle:
SZ vom 30.07.2020
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