Süddeutsche Zeitung

"Elektra" in Salzburg:Das Experiment

Erfüllend und erschöpfend: Krzysztof Warlikowskis "Elektra" ist die erste Oper mit großem Orchester seit dem Lockdown.

Von Reinhard J. Brembeck

Das war kein Tanz auf, sondern einer mit dem Vulkan. Die Salzburger Festspiele aber haben sich zumindest in ihrem ersten Pas de deux mit der Seuche glänzend geschlagen. Sie sind nicht vor ihr eingeknickt, sie haben ihr die Stirn geboten, sie haben jetzt das Festival eröffnet. Zwar in einer reduzierten Ausgabe und mit nur einem Drittel der ursprünglich angebotenen Karten, was aber immer noch 80 000 sind, von denen noch immer nicht alle verkauft sind. Was angesichts der Infektionszahlen und bei Kartenpreisen von bis zu 450 Euro für die Opernaufführungen kein Wunder ist. Viele internationale Gäste sind nicht gekommen.

Allerdings grollten nach der schon für fünf Uhr nachmittags anberaumten Neuinszenierung der Blut- und Psychostudie "Elektra" erst einmal die Himmel den kühnen Festspielen und brachten den schwülheißen Festspieleröffnungstag mit Blitzen und Regen zu Ende. Das aber passt wunderbar zu einem Stück, dessen Protagonistin nur eines ersehnt, den Muttermord, und auch dann nicht glücklich wird, als der endlich vollzogen ist.

Die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst rühren Unglück um Unglück an

In Salzburgs Getreidegasse herrscht eine saisonuntypische Leere, was auf das sichtbare Ausbleiben der saisontypischen Touristen zurückgeht. Im breit sich hinziehenden Orchestergraben der immerhin zur Hälfte mit Publikum besetzten Felsenreitschule aber herrscht eine maskenfreie Enge, die an die zur selben Zeit in Berlin stattfindenden Demos gegen die Corona-Maßnahmen erinnert. Nur sitzen da in Salzburg in Hundertschaftstärke die Wiener Philharmoniker, das Hausorchester der Festspiele, und rühren zusammen mit dem Dirigenten Franz Welser-Möst Unglück um Unglück an, eines grandioser als das andere.

Ach, wie herrlich und erfüllend ist es doch, nach Monaten erstmals wieder ein großes Orchester und dann noch dieses in einem großen Raum und mit Sängern zusammen zu hören! Das allein schon ist wohl für viele Besucher das Risiko dieses Abends wert. Neben diesem Liveklang wirken die viel gepriesenen digitalen Kunstsurrogate einfach nur dürftig.

Dunkles, Schroffes, Gellendes und Kreischendes grundieren diesen Totentanz, den Richard Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal, zwei der Väter der vor genau einhundert Jahren gegründeten Festspiele, hier in Szene gesetzt haben. Hatte Wolfgang A. Mozart, ein gebürtiger Salzburger und deshalb der Hauskomponist der Festspiele, das Tanzlied seines Frührevolutionärs Figaro nur untergründig mit Schrecken und Grellheiten garniert, so sind Grelles und Schreckliches für Strauss/Hofmannsthal das Lebenselixier ihrer so wuchtig tanzenden "Elektra".

Die Musik dampft und schnaubt, sie keucht und kreischt, sie springt den Hörer wie ein Raubtier an, schleudert ihn achtlos in eine Ecke. Alles ist überdeutlich Botschaft, alles kündet von den Seelenschründen der Protagonistin. Fin de Siècle, Schauerromantik, Exhibitionismus, Blutsucht und Rachegelüst ergeben eine Schrille, die schnell unerträglich sein kann und heute wie aus der Zeit gefallene Outrage wirkt. Das wissen in Salzburg alle. Musiker wie Macher hegen deshalb das Grauen ein, sie domestizieren es. Das aber nimmt dem Stück nichts von seiner Wirkung. Durch die Domestizierung werden die Abgründe und Ungeheuerlichkeiten betont, wird der gewaltige Abstand zwischen Alltagsharmlosigkeit und Seelenabgrund deutlich.

Die Wiener Philharmoniker spielen jede Tonverrenkung und jede Klangskurrilität mit Nonchalance und Understatement. Bei einer Außentemperatur von über 30 Grad schwitzen alle, sogar im Zuschauerraum. Der anwesende Großdichter Peter Handke entledigt sich seines Jacketts. Nur die überkochende Musik schwitzt nicht, das verhindern die Wiener und Welser-Möst. Sie setzen auf Form und zeigen so, wie Strauss beständig gegen diese rebelliert, ohne sie überwinden und hinter sich lassen zu können. Die Form ist eine Messerschneide, auf der sich hier alles selbst zerfleischt, vor allem die Protagonistin. Diese Musik, das wird in Salzburg ganz deutlich, betreibt die gleiche Selbstzerstörung wie Elektra.

Ausrine Stundytes Elektra ist eine junge Frau, schlank, elegant. Vielleicht ein wenig verhärmt in ihrem Jungmädchenkleid. In der Getreidegasse würde sie nicht auffallen. Niemand sieht ihr an, dass sie nur ihrem tödlichen Hass auf die Mutter lebt, die einst den Vater aus durchaus nachvollziehbaren Gründen im heimischen Badezimmer gemetzelt hat. Da war Elektra noch klein, und ihre Kinderliebe zum Vater ist deshalb ewig unerfüllt geblieben, konnte sich deshalb auch nicht weiterentwickeln.

So zeigt das Regisseur Krzysztof Warlikowski, dieser gern mit Rätseln und Assoziationen arbeitende Tiefenpsychologe. Elektra hat über ein Jahrzehnt lang den Hass auf ihre Mutter gezüchtet, bis er monströse Ausmaße erreicht. Der Hass lastet als einziger Lebensinhalt auf dieser zarten Frau, die ansonsten haltlos durch Leben und Musik schwimmt.

Anders als ihre Sängerkollegen überlässt sich Ausrine Stundyte ganz dem Sturm der Orchesterklänge. Tollkühn und virtuos stürzt sie sich in die Klangkaterakte, droht zu versinken, taucht aber immer wieder auf, wird verschlungen und kehrt doch zurück. Stundytes Stimme ist dunkel und geschmeidig, selbst in den Exzessen zeigt sich keine Schärfe und keine Härte. Diese Elektra ist nie dominant, ihr Wahn und Mutterhass aber nagen hörbar an ihrer Seele.

"Elektra" ist als Dreieck zwischen drei Frauen aufgespannt. Neben Elektra und ihrer Schwester ist da die Mutter, die Gattenmörderin. Tanja Ariane Baumgartner ist hörbar ermüdet von den schon jahrelangen Gewissensbissen und Albträumen, von der Angst, dass der in die Fremde verschickte Sohn Orest als Rächer zurückkehren könnte. Diese Frau möchte nur noch Ruhe und Frieden. Ihre verbleibende Kraft reicht gerade noch aus, um nicht an Selbstmord zu denken. Also gibt sie sich der letzten trügerischen Illusion hin, dass der verstoßene Sohn, den zu töten sie nicht fertigbrachte, in der Fremde gestorben sein könnte.

Die Bühnenbauerin und Kostümerfinderin Małgorzata Szczęśniak hat die charakteristischen Arkaden der Felsenreitschule vermauern lassen: Aus diesem Felsendom gibt es kein Entrinnen. In die Bühne hat Szczęśniak ein Wasserbecken eingelassen und daneben einen durchsichtigen Kubus gestellt, in dem die Morde stattfinden. Als Orest kommt, taucht ihn Strauss in die Gräberdüsternis der Posaunen. Derek Welton zeigt trotz großer Sängerpotenz keine Lust, die Mutter und deren Liebhaber abzuschlachten. Der Mann wird ferngesteuert durch die übermächtigen Rachegedanken seiner Schwester Elektra, er erfüllt gegen seinen Willen deren Rache, zu der diese traditionell erzogene Tochter aus besseren Kreisen nicht fähig ist.

Die Morde geschehen unsichtbar im abgedunkelten Kubus, und der traumatisierte Muttermörder Orest torkelt dann dem gleichen Schicksal wie die Mutter entgegen: immer nur Gewissensbisse, immer nur schlaflose Nächte. Der Trost der Erlösung, den Aischylos in seiner "Orestie" bietet, fehlt bei Hofmannsthal/Strauss. Da wird das Morden genauso weitergehen wie in der realen Welt.

Kaum haben sich die Musiker ausgetobt, tobt das Publikum los. Masken trägt kaum jemand

Asmik Grigorian sorgte bei den Festspielen vor zwei Jahren als Protagonistin in der "Salome" von Strauss für eine Sensation. Jetzt singt sie Elektras Schwester Chrysothemis. Der gehen die Übergriffigkeiten von Mutter wie Schwester schwer auf die Nerven. Sie will leben, will Kinder, will Freude. Das ist naiv und spießbürgerlich, aber Grigorian und Regisseur Warlikowski machen diese Frau zur Hoffnungsträgerin. Chrysothemis erkennt, dass Elektras Rachepläne illusorisch sind, weil nicht realisierbar. Deshalb verweigert sie sich ihnen. Als Orest aber zum Morden ansetzt, macht sie, die Realistin und Pragmatikerin, begeistert und bald mit blutigen Händen mit. Endlich kann sie sich ihren Lebenstraum erfüllen, endlich kann sie leben.

Im Gegensatz zu ihrer Schwester und ihrem Bruder ist Chrysothemis skrupellos, der Muttermord empört sie so wenig wie der am Vater. Grigorian singt mit triumphierendem Sopran, schließlich ist ihre Chrysothemis die Einzige, die hier eine Zukunft hat. Während Elektra sich mit Schlaftabletten umbringt. Sie hat ihr Ziel erreicht und sieht keinen Sinn im Weiterleben. So verschwindet sie in der Musik, gegen die sie sich so lange zur Wehr gesetzt hat.

Kaum hat sich das Orchester ausgetobt, tobt das Publikum los. Die Bitte, zum Schlussjubel die Seuchenmasken wieder aufzusetzen, befolgen nur nach und nach einige Besucher. Unverkennbar herrscht den ganzen Abend über Festspielstimmung. Spürbar aber ist zuletzt auch eine große Erleichterung bei Publikum wie Sängern und Musikern, dass dieser Opernversuch geglückt ist. Zumindest im Moment. Schließlich weiß noch niemand, ob dieser Abend nicht doch ein Superspreaderevent gewesen ist. So bricht der Jubel auch schnell in sich zusammen. Alle sind erschöpft davon, Teil eines solchen Experiments gewesen zu sein. Ist es wirklich vorstellbar, dass Oper nur als solch ein emotional aufreibender Tanz auf dem Vulkan möglich sein soll?

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Quelle:
SZ vom 03.08.2020/khil
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