Salzburg:Allein, es fehlt ihm doch an Kraft

Thaïs 2016 • Plácido Domingo (Athanaël), Marina Rebeka (Thaïs) Download-Größe: 1443218kBKeine Honorarpflicht bei aktueller Berichterstattung über die Salzburger Festspiele und Nennung des Fotocredits.© Salzburger Festspiele / Marco Borrelli

Der Verführte: Plácido Domingo (Athanaël), Marina Rebeka (Thaïs).

(Foto: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli)

Jules Massenets Oper "Thaïs" mit Plácido Domingo konzertant bei den Festspielen.

Von Michael Stallknecht

"Da ist er", singt der Philharmonia Chor Wien nach wenigen Minuten, und tatsächlich: Das ist er auch schon, Plácido Domingo, einer der berühmtesten Tenöre des 20. Jahrhunderts. Vor einigen Jahren begann er, immer wieder die Stimmlage zu wechseln, mit unterschiedlichem Erfolg. Als Bariton verkörperte er kürzlich an der Mailänder Scala durchaus glaubwürdig einen todmüden alten Herrscher in Verdis "I due Foscari". Die Salzburger Festspiele setzen regelmäßig ein Stück für den Grandseigneur an, der noch immer Starglanz verspricht.

In diesem Jahr wird im Großen Festspielhaus eine konzertante Aufführung von Jules Massenets Oper "Thaïs" gegeben. Domingo verkörpert darin den Mönch Athanaël. Die 1894 in Paris uraufgeführte Oper entnimmt ihren Stoff der christlichen Bekehrungsliteratur, lädt ihn aber mit dem morbiden Erotizismus des Fin de siècle auf: Irgendwann im 4. Jahrhundert, im Umbruch zwischen Heidentum und noch jungem Christentum, verlässt der Mönch die ägyptische Wüste, um im großstädtischen Alexandria die schöne Venuspriesterin Thaïs zum christlichen Gott und damit zur Keuschheit zu bekehren.

Doch in der kirchenkritischen Romanvorlage von Anatole France und der ihr folgenden Oper sind seine Absichten alles andere als fromm, auch wenn er sich dessen zu Beginn kaum bewusst ist. Athanaël ist viel zu stolz auf seinen missionarischen Eifer, als dass er nicht umso sicherer der erotischen Macht verfiele. Die Bekehrung entpuppt sich als sadomasochistischer Akt, in dem sich der Mönch die Frau zumindest als entsagende gefügig macht. Als echtes Kind der Décadence verschmilzt das Stück einen ästhetisierten Katholizismus mit der frühen Psychoanalyse. In Unkenntnis des eigenen Unterbewusstseins treiben sich die Figuren gegenseitig dem Untergang entgegen. Thaïs ist eine Schwester der Salome bei Oscar Wilde.

Der erotischen Exzesse müde und von dunklen Ängsten gequält, erfährt sie zuletzt die Keuschheit als die äußerste und einzige noch mögliche Steigerung der Sexualität. Am Schluss singt sie sich sterbend der erotischen Vereinigung mit dem Himmel entgegen, während der Mönch ihr gesteht, doch immer nur ihren Körper begehrt zu haben.

Marina Rebeka hat in Salzburg einige nachvollziehbare Schwierigkeiten, die letzte Verzückung glaubhaft werden zu lassen. Verführerische Raffinesse nimmt man der lettischen Sopranistin jedoch während der ersten beiden Akte umso sicherer ab. Massenet entwarf die Partie für die auch von ihm vergötterte Sopranistin Sibyl Sanderson, die für ihren Männerverschleiß ebenso bekannt war wie für ihren Stimmumfang. Marina Rebeka, die die Partie kurzfristig für die eigentlich vorgesehene Sonya Yoncheva übernahm, verfügt nicht nur über die astronomischen Spitzentöne, ihre Stimme schmeichelt sich auch sonst mühelos durch die Register. Die Souveränität, mit der sie die Töne in allen Lagen an- und abschwellen zu lassen vermag, wird tatsächlich zur erotischen Macht.

Dagegen hat es Domingo schwer. Die Kraft des nach offiziellen Angaben 75-Jährigen bleibt erstaunlich, zweieinhalb Stunden lang steht er hier fast ununterbrochen auf der Bühne. Dass die Töne nicht mehr ganz sicher auf dem Zwerchfell sitzen und leicht zittern, wäre nicht weiter schlimm. Doch springt die Stimme immer erst richtig an, wenn sie in die vertraute Tenorlage wechselt. Die stabile Mittellage des Baritons steht Domingo kaum zur Verfügung, oder sie versinkt im Orchesterklang. Damit aber fehlen ihm nicht nur die dunklen Farben, von dieser Rolle dringend verlangt werden. Ihm fehlt, problematischer noch, die virile Autorität.

So schön ist Dekadenz: Wenn Keuschheit zur letzten Steigerung des Begehrens wird

Keine Sekunde glaubt man, dass dieser alternde und edel tenoral leidende Herr diese großartige Frau in seine Macht zwingen könnte. Stattdessen leidet man mit ihm, sobald Benjamin Bernheim, der echte Tenor, neben ihm auf der Bühne steht. Bernheim singt Nicias, Thaïs' letzten Liebhaber, der sich ihre Hingabe mit dem Vermögen eines spätantiken Gutsbesitzers für eine Woche erkauft. Dabei zeichnet er nicht nur das bestechende Porträt eines von den Wassern der Ironie glattgewaschenen Kosmopoliten, er singt auch technisch so makellos wie Domingo in seinen besten Zeiten.

Um das ungewöhnliche Stück einmal live zu hören, lohnt sich der Salzburger Abend dennoch. Schließlich kennen auch Klassikliebhaber meist nur die "Méditation" aus dem zweiten Akt, die es als Auskopplung in die Wunschkonzerte geschafft hat. Konzertmeister Felix Froschhammer spielt das berühmte Violinsolo sehnsuchtsvoll, ohne zu schmalzig zu werden, und das Münchner Rundfunkorchester schafft perfekt die nötige Mischung aus warmem Streicherklang und französischer Leichtigkeit. Am Dirigentenpult steht mit Patrick Fournillier ein ausgewiesener Experte für das französische Fach, der das schillernde Band dieser Musik elegant wogend in Bewegung hält und gleichzeitig hörbar macht, wie abgründig diese Geschichte ist.

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