Süddeutsche Zeitung

Bücher des Monats September:Schaurige Gestalten

Ein Dorf voller Untoter, zwielichtige Adelige, ein ewig missverstandener Kontinent und eine Portion Lifestyle-Marxismus: Das sind die Bücher des Monats.

Von SZ-Autorinnen und Autoren

Sally Rooney: Schöne neue Welt, wo bist du?

Die irische Autorin Sally Rooney erzählt in Interviews gern, dass sie marxistisch erzogen wurde und sich schon früh für die Dynamik von Klassenunterschieden interessiert habe. Diese Erziehung schlägt sich nun in ihrem neuen Roman "Schöne neue Welt, wo bist du?" nieder. Wie in ihren vorherigen beiden Büchern, beides Bestseller, steht auch diesmal das intellektuell angestrengte Gespräch zweier junger Frauen im Mittelpunkt. Eileen und Alice, zwei Irinnen aus der Post-Crash-Generation, schreiben sich lange, sprachverliebte Emails über Identitätspolitik, die Arbeiterklasse, das Christentum, den Verlust von Schönheit oder den Lifestyle-Marxismus, der gerade einige Dubliner Kreise erfasst. Zwischendurch wird gedatet und jede Menge Sex gehabt, bei dem sich die Frauen dann gern von den Männern dominieren lassen. Rooney adelt eigentlich Banales zu einem gut lesbaren, gerade noch kitschfreien Roman.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Miryam Schellbach.

Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September

"Jeder stirbt so, wie er in der letzten Endlichkeit gelebt hat", lautet ein zentraler Satz in Angelika Klüssendorfs Roman "Vierunddreißigster September". Im Falle von Walter ist das kompliziert, denn er war in den letzten Tagen vor seinem Tod aufgrund eines Hirntumors ein gänzlich anderer als in den Jahren zuvor. Nämlich freundlich und zugewandt statt verbittert und tyrannisch. Als unsichtbarer Geist schwebt Walter dann durch ein Dorf in Ostdeutschland und der Leser schwebt mit. Walter schaut den Menschen, den lebenden genauso wie den toten, ins grau angelaufene Herz: dem Säufer Heinrich, dem einbeinigen Hans, der dicken Hubert, und auf der Seite der Toten den ertrunkenen, erfrorenen, noch im Mutterleib gestorbenen. Obwohl die Erzählstruktur konstruiert anmutet, erweist sie sich als erfreulich tragfähig. Ein wildes, starkes und tröstliches Buch über die Trostlosigkeit.

Lesen Sie hier die ausführliche Rezension von Sophie Wennerscheid.

Bartholomäus Grill: Afrika!

Die Afrika-Berichterstattung in Deutschland ist noch immer voller Klischees und Stereotype. Gut, dass es so erfahrene Reporter gibt wie Bartholomäus Grill. Einst kam er als "Dritte-Welt-Bewegter" auf den Kontinent - und nun präsentiert er eine eindrückliche Reportagen-Reihe aus vielen Jahrzehnten als eine Art Quintessenz seines Schaffens. Besonders elegant lässt Grill die Luft aus der - vor allem von der Wirtschaft geliebten - Phrase von Afrika als "Zukunftskontinent". Seine Texte reflektieren das eigene Tun und frühere Urteile über einzelne Protagonisten und Länder. Zudem übt Grill auch kluge Kritik an den vorherrschenden Afrika-Diskursen. Kein "Ich-erklär-Euch-den-Kontinent"-Buch, aber eines, das die Leser viele Probleme und Chancen einiger Länder dort besser verstehen lässt.

Die ausführliche Rezension von Moritz Behrendt lesen Sie hier.

Gesine Schwan: Europa versagt

Die Kritik an der Migrations-Verhinderungspolitik der EU ist nichts Neues auf dem Buchmarkt. Sie wird mit großer Verve auch von der SPD-Politikerin und Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan betrieben. Schon der Titel "Europa versagt" zeigt das. Allerdings bleibt Schwan nicht bei der Kritik stehen, sondern präsentiert auch einen Vorschlag, wie man das ineffiziente Dublin-Verfahren bei der Verteilung von Flüchtlingen ablösen könnte. Im Endeffekt liefe das Modell auf eine Art Parship für Flüchtlinge hinaus, statt Quoten würden Algorithmen bestimmen, welcher Geflüchtete zu welcher Kommune passt. Auch die Hürden und Probleme dieses ungewöhnlichen Vorschlags diskutiert Schwan ernsthaft durch und hat so die Debatte bereichert - trotz der moralischen Keule gegen Brüssel.

Die ausführliche Rezension von Friederike Bauer lesen Sie hier.

Stephan Malinowski: Die Hohenzollern und die Nazis

Stephan Malinowskis Buch "Die Hohenzollern und die Nazis. Geschichte einer Kollaboration" wurde mit Spannung erwartet. Der Autor hat 2014 ein "Gutachten zum politischen Verhalten des ehemaligen Kronprinzen Wilhelm Prinz von Preußen (1882-1951)" geschrieben, in dem er die Frage behandelt, ob dieser der Errichtung und Festigung des nationalsozialistischen Regimes "erheblichen Vorschub" geleistet habe - was Malinowksi bejaht. Sein neues Buch schreibt nun die These einer aus Machtverlust geborenen Radikalisierung im deutschen Adel fort und weitet den Blick auf die Hohenzollern-Familie insgesamt, über mehrere Generationen hinweg. Es ist ein Buch, das sich ans allgemeine Publikum richtet und die Fülle von Akteuren und Details präsentiert, zu denen zwielichtige Hochstapler, verweigerte Duelle und anachronistische Obsessionen gehören.

Die ausführliche Rezension von Lothar Müller lesen Sie hier.

Gaspard Koenig: Das Ende des Individuums

Der französische Philosoph Gaspard Koenig stellt sich in seinem Buch "Das Ende des Individuums" die Frage, wie unsere Gesellschaft auf die Entwicklung der künstlichen Intelligenz reagieren sollte. Er reist, im Auftrag eines französischen Magazins, zu den wesentlichen Akteuren, Praktikern und Vordenkern der KI. Seine Absicht ist es dabei nicht, erneut die Möglichkeiten der KI vorzuführen, auch nicht, vor einer neuen Weltordnung zu warnen, vielmehr wägt er Chancen und Risiken ab und formuliert dann Empfehlungen. Er spricht mit Amazon und Google, denkt über autonomes Fahren nach und Dating, das mit KI möglicherweise effizienter, aber auch langweiliger wäre. Die inspirierendste Erkenntnis: Es sind erst die Fehler, die falschen Einschätzungen und die Irrwege, die das Leben erst interessant machen.

Die ausführliche Rezension von Nils Minkmar lesen Sie hier.

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